032 - Der Opferdolch
uns ein! Wir werden sicher verfolgt.«
Vavra sprach leidlich Englisch, denn sie stammte aus Tirana und hatte die Realschule besucht. Sie verstand Dorian, war aber äußerst mißtrauisch. Noch nie war es jemandem gelungen, von der Festung Kanina zu entfliehen, seit der Mbret erschienen war und seine Schreckensherrschaft begonnen hatte. Vielleicht war es eine Falle.
»Ich glaube euch nicht«, sagte Vavra in ihrem schwerfälligen Englisch. »Ich muß sichergehen. Haltet eure Gesichter vor die Luke!«
Die beiden gehorchten. Vavra Noli holte einen kleinen Weihwasserkessel und besprengte den Mann und die junge Frau durch die Luke. Keiner von beiden zuckte, keiner stieß einen Schmerzensschrei aus oder schlug die Hände vors Gesicht.
Schnell entriegelte Vavra Noli die schwere Tür, an der Knoblauchketten angenagelt waren. Dorian und Elise schlüpften hinein. Die Bauersfrau verrammelte in aller Eile die Tür wieder, im letzten Augenblick, denn schon kamen Horrorgestalten den Weg von der Festung Kanina herab, Vampire und Untote.
Es war eine wolkenlose, sternenklare Nacht. Man konnte den Weg und die Umgebung des Bauernhauses gut überblicken.
Vavra Noli bekreuzigte sich. »Sie kommen wieder. Der Mbret schickt sie, und Faik führt sie an. Gott sei mir gnädig!« Dann fuhr sie in ihrem schlechtem Englisch fort: »Auf, auf, bewaffnet euch! Wenn die Wiedergänger hereinkommen, sind wir alle verloren. Du nimmst das Beil dort, Schnurrbart, und du eine Mistgabel, Frau! Ich werde Fackeln und Weihwasserkessel bereitstellen. Die Wiedergänger haben gelernt, mich zu fürchten. Viele von ihnen tragen Wundmale am Körper, die ich ihnen beigebracht habe.«
Dorian nahm das Beil. Im Haus brannten Petroleumfunzeln.
Vavra Noli stellte in jeden Raum einen Weihwasserkessel und steckte überall brennende Fackeln in die eisernen Ständer.
Die Wiedergänger warteten. Eine halbhohe Bruchsteinmauer umgab das Grundstück. Dorian ging durch das Haus, um sich davon zu überzeugen, daß nirgends eine Tür oder ein Fenster offengeblieben waren.
Das Haus hatte fünf Räume und eine kleine Vorratskammer. Alles war eng; die Räume wirkten düster. Er staunte nicht schlecht, als er in einem Raum einen Ackergaul, eine Kuh, zwei Ziegen, ein Schwein und ein halbes Dutzend Schafe sah. Sie waren wie Ölsardinen in einer Büchse zusammengepfercht. Stroh lag auf dem Boden des Zimmers.
»Ich hole das Vieh jeden Abend herein«, sagte Vavra, »sonst bringen die Untoten es um oder verschleppen es. Die Hühner sind auf dem Dachboden.«
Eine Ziege meckerte. Die Tiere spürten instinktiv die Nähe der Untoten. Sie verhielten sich ruhig. Nur das Schwein versuchte an Dorian vorbei aus dem Zimmer zu kommen, aber Vavra trieb es mit der brennenden Fackel zurück.
»Benimm dich, Ibrahim!« sagte sie. »Sonst brenne ich dir den Schwanz an.«
Das Schwein quiekte, und die Bauersfrau schloß die Tür.
»Ibrahim – ist das nicht ein seltsamer Name für ein Schwein?«
»Ibrahim ist ein muslimischer Name«, antwortete Vavra. »Ich bin eine gute Katholikin und wußte nicht, wie ich ein Schwein sonst taufen sollte.«
Albanien hatte blutige Pogrome und Christenverfolgungen erlebt, wie Dorian wußte. Etwas von dem alten Haß war immer noch lebendig.
Sie kehrten in die gute Stube zurück, den größten Raum des Hauses. Die Untoten hatten sich noch nicht gerührt. Sie wollten ihre Gegner zermürben, indem sie abwarteten. Aber die Methode wirkte nur bei Elise. Die Stewardeß lief aufgeregt im Raum hin und her.
»Ich halte das nicht mehr aus!« rief sie. »Wenn sie doch endlich kommen würden! Diese Ruhe ist einfach gräßlich.«
»Ruhig!« sagte die Bauersfrau. »Sie kommen noch früh genug.« Sie hatte sich in den Sessel gesetzt und zu stricken angefangen; ein Paar Wollstrümpfe für ihren Mann. Vor vier Wochen, kurz bevor der Mbret ihn holte, hatte sie damit begonnen. Obwohl Faik sie sicher nie mehr brauchen würde, strickte sie noch daran, einfach weil sie nichts Angefangenes liegenlassen wollte.
An den Wänden hingen drei Gewehre: zwei alte Vorderlader und ein Karabiner 98 k der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Elise nahm den Karabiner. Das Fünf-Schuß-Magazin steckte in der Kammer.
Elise verstand ein wenig von Schußwaffen. Sie war Mitglied eines Wiener Schützenvereins. Sie entsicherte den Karabiner, zielte auf einen Untoten in einem schmutzigen weißen Gewand – Faik Noli – und drückte ab.
Die Kugel traf den Wiedergänger mitten in die Brust, aber nichts
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