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abtragen. Nein, Deri und Telor würden das Kerbholz ehrlich markieren und sie ehrlich lehren, wie man es benutzte, und ihr einen ehrlichen Anteil geben. Plötzlich furchte sie die Stirn.
Es war nicht so, dass sie jetzt einen Anflug von Verachtung für Telors und Deris bezwingende Ehrlichkeit empfand. Es war klar, dass beide mit ihrer Ehrlichkeit wohlhabender waren, als Morgan das trotz all seiner Betrügereien und Diebstähle je gewesen war, doch Deri hatte nichts davon gesagt, dass sie arbeiten solle, sondern nur geäußert, er würde sie gern üben sehen - und Deri und Telor hatten ihr kein Kleid gekauft, in dem sie tanzen konnte. Ihr ging der Gedanke durch den Sinn, dass sie ein Tanzkleid besaß, doch sie verdrängte ihn nach einem Blick auf die guten Stoffe und die leuchtenden Farben der neuen Sachen. Sie wusste, Telor werde sie nie in dem verblichenen Fetzen auftreten lassen, der ihr gehörte. Aber sie würde auftreten müssen, um für die Sachen zu zahlen, und sei es auch nur, um eine neue Truppe von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.
Deri hatte erwähnt, man werde nach Oxford reisen, wo sie vielleicht eine neue Schaustellertruppe fand. Aber warum dann all diese Sachen? Eine langärmelige Tunika und Strümpfe und Schuhe - so etwas würde sie bestimmt nicht benötigen, bis es im Herbst kühler wurde. Und zu Pferd konnte es nicht so lange dauern, um Oxford zu erreichen. Dann fiel ihr Blick auf die leuchtend rote Brayette. Oh, sie würde als Junge tanzen!
Wieso als Junge?
Mochte Telor Jungen? Carys erstarrte und lachte dann laut auf. Nein! Deri hatte ihr gesagt, Telor interessiere sich viel zu sehr für Frauen. Warum hatte er ihr das gesagt? Welche Bedeutung sollte das für sie haben? Alle Männer schliefen mit irgendeiner Frau, die ihnen gefiel und die willig war. Telor hatte jedoch auch geäußert, dass er nicht von ihr verlangen würde, mit ihm zu schlafen. Eigenartig war, dass Deri so geklungen hatte, als könne sie sich verletzt fühlen, wenn sie mit Telor schlief und er sich dann mit einer anderen Frau befasste. Lag das daran, dass Telor so erfahren war und sie daher wie eine der eifersüchtigen Frauen in einem Theaterstück werden würde? Auch in Morgans Truppe hatte es Eifersucht gegeben.
Da war ein Tanzmädchen gewesen, das sich erbittert mit Morgan gestritten hatte, weil er in einem Wirtshaus eine Nacht mit einer Schankmagd verbracht hatte.
Die Erinnerung daran dämpfte das Gefühl der Wärme, das sich in Carys geregt hatte.
Vielleicht war Telor nicht besser als er, und in diesem Fall wollte Carys nichts von ihm wissen. Und dennoch war er in jeder Hinsicht so anders als Morgan. Vielleicht war er auch im Bett anders. Sie erinnerte sich an seinen Anflug von Begierde, der ihr Verlangen auf dem Hügel in der Nähe von Chippasham geweckt hatte. Das war keine Lust gewesen. Bei vielen Männern hatte sie gemerkt, dass sie nur lüstern waren, und sie deshalb verachtet. Das, was Telor hatte erkennen lassen, war zumindest nicht nur Lust gewesen. Aber was war, wenn es doch nur Lust gewesen war? Was war, wenn das Gedächtnis sie trog? Immerhin hatte sie ihn seit vier Tagen nicht mehr gesehen.
Sie verlagerte das Gewicht auf die Knie, griff nach der hellblauen Tunika, hielt sie sich an und sagte sich, dass sich, wenn sie Telor sah, vermutlich herausstellte, dass ihre Erinnerungen sie getrogen hatten und eine dumme Anwandlung von Verlangen nach ihm sofort ersterben würde. Dann würde sie fähig sein, mit ihm darüber zu reden, ob sie bei ihm und Deri blieb. Gemeinsam könnte man die besten Darbietungen abliefern, bei denen Deri den Narren spielt und sie in Städten auf dem Seil tanzte. Und in Burgen konnten Deri und sie Bedienstete sein oder Diener und Lehrling, ganz so, wie es Telor gefiel.
9. KAPITEL
Leider überdauerten Carys' Pläne am nächsten Tag nicht den ersten Blick auf Telor.
Sie hatte im Stall auf den Sparren Übungen gemacht. Es war heiß unter dem Dach, und sie war daher in ihrem alten, verschlissenen Kleid ganz verschwitzt. Telor war in den Stall gekommen und hatte gesehen, wie sie sich reckte, um das Unterhemd und die Tunika vom Haken zu nehmen, an die sie die Sachen gehängt hatte.
Sie hatte sie berührt und sich dabei umgedreht. Er hatte nicht mehr rechtzeitig seine staunende Miene ändern und einen gleichgültigen Ausdruck aufsetzen können. Er riss jedoch sogleich den Blick von ihr los. Carys wollte ihn fragen, ob sie noch die Zeit habe, ihr Unterhemd auszuwaschen und sich vom
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