032
ihn.
„Es ist dunkel geworden", murmelte sie, „und Telor ist noch nicht zurück. Ich habe Angst."
Ruckartig setzte Deri sich auf und schaute sich um. Alles war still. Es schien, als seien sie die einzigen Menschen, die noch im Stall waren. „Das gefällt mir nicht", murmelte er. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der neue Herr so begeistert von Liedern ist, dass er Telor all diese Stunden bei sich behalten hat. Außerdem sind hier keine Damen, die unterhalten werden wollen. Der Hinkefuß, der Telor holte, hat uns beide gesehen. Verdammt will ich sein, weil ich eingeschlafen bin!"
„Auch ich habe geschlafen", erwiderte Carys, weil sie nicht wollte, dass Deri sich als Einziger schuldig fühlte. „Aber ich schlafe nicht sehr tief, und ich bin sicher, dass ich aufgewacht wäre, hätte es irgendwo Wirbel gegeben."
Deri und sie gingen zum Stalleingang und lugten vorsichtig in die Gegend. Alles war jedoch friedlich. Den wenigen Leuten, die auf dem Hof herumgingen, sah man nicht an, dass irgendetwas Ungewöhnliches passiert war.
Deri zuckte mit den Schultern. „Ich werde jemanden fragen."
Carys schüttelte den Kopf. Sie wusste, sie müsse in die Große Halle gehen, weil ein Junge in schäbiger Kleidung mehr oder weniger unbeachtet blieb, und wenn ein Junge nach dem Barden fragte, deutete das auf nichts anderes hin als seine Absicht, dass er Geschichten und Lieder hören wollte.
„Ich werde gehen", erbot sie sich. Die Stimme war ihr gebrochen, obwohl sie sich um einen festen Ton bemüht hatte, und sie zitterte.
„Du bleibst hier und hältst dich außer Sicht!" befahl Deri und schaute finster Carys an.
„Aber Deri. . ." begann sie. Sie wollte ihn nicht verletzen, war jedoch von der großen Sorge getrieben worden, ihn daran erinnern zu müssen, dass man ihn sofort bemerken und als Diener des Sängers erkennen würde.
„Falls ich nicht zurückkommen sollte", unterbrach er grimmig, „dann nimmst du die Münzen und Schmuckstücke aus der alten hohlen Harfe und versuchst, morgen mit irgendjemandem, der den Besitz verlässt, hier wegzukommen."
Beim Sprechen hatte er den Stall verlassen, ehe Carys einen Einwand erheben konnte. Es war jedoch nicht so, dass sie einen Einwand hätte machen können, da ihr vor Angst die Kehle wie zugeschnürt war. Erschüttert stand sie da, während die Tränen ihr über das Gesicht liefen, und sah den Zwerg direkt zur Großen Halle gehen. Ihr war klar, er glaubte, dass Telor tot war. Er glaubte, Telor habe etwas in Bezug auf Eurion gesagt oder getan, das falsch gewesen war, und der Herr hatte ihn auf der Stelle getötet. Deshalb hatte er darauf bestanden, in das Wohngebäude zu gehen. Falls Telor tot war, würde er sich an so vielen Leuten rächen, wie er konnte, ehe auch er umgebracht wurde.
Hätte Carys sich regen oder schreien können, wäre sie hinter ihm hergerannt, doch ihr Kummer und die Angst, allein zu sein, waren so stark, dass sie wie erstarrt stumm dastand. Sie sah Deri durch die offene Tür in die erleuchtete Halle gehen. Dann belebte die Hoffnung sie, weil sie den Eindruck hatte, dass viel Zeit verstrichen war und Deri sich sehr lange in der Halle befand. Sie war so weit zu sich gekommen, dass sie doppelt entsetzt war, als in der Halle Tumult ausbrach.
Sie hörte Wutgebrüll und mehrere Schmerzensschreie. Von Weinkrämpfen geschüttelt, klammerte sie sich an den Rahmen der Stalltür. Der Lärm schien kein Ende zu nehmen, und sie fühlte, wie ihr Leben in winzige Stücke zerbarst, die in den Staub getreten wurden. Sie konnte sich nicht bewegen, um sich irgendwo zu verstecken. Welchen Sinn hatte es, sich zu verstecken? Der Tumult legte sich, und die einzige Freundlichkeit, die ihr seit der Kindheit widerfahren war, erstarb mit dem Lärm. Es war besser, sich mit einem ihrer Dolche zu erstechen.
Kaum hatte sie diesen Gedanken und versuchte, den Mut aufzubringen, nach dem Dolch zu greifen, verdunkelte die Silhouette eines Mannes die Tür, der einen anderen Mann an dessen viel zu kurzen Bein herauszerrte. Wie gelähmt vor Schmerz und Kummer behielt sie den Mann im Auge, bis er aus ihrer Sicht entschwand. Sie tastete wieder nach dem Dolchgriff, dieses Mal jedoch unsicherer. Etwas an dem fortgezerrten Körper hatte nicht gestimmt. Dann begriff sie, was das war. Er hatte keine Arme gehabt. Aber der Lärm, die Schreie und das Gebrüll. . . nichts davon konnte von Deri stammen. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als der Grund ihr klar wurde. Man hatte Deri die Hände
Weitere Kostenlose Bücher