0330 - Der Seelenwächter
barsch und ging voran. Vorsichtig, dann immer schneller, folgten Wang Lee Chan und Eysenbeiß seinen Schritten…
***
»Diese Felsen! Sie sind so seltsam geformt!« stellte Carsten Möbius fest.
»Sie sehen aus, als ob tausende von menschlichen Körpern in engen Ringen und Windungen zusammengepreßt sind und zu Stein erstarrten. Aus der Ferne sieht es aus, wie Gesteinsadern und seltsame Verformungen. Aber wenn man genau hinsieht, dann gleichen die beiden Wände der Schlucht titanischen Reliefs!«
»Möglich ist hier alles!« knurrte Asmodis. »Wir befinden uns hier bereits in der Region jenes Teils der Unterwelt, die man als Tartarus bezeichnet. Hier glaubten die alten Griechen, erhalten die Menschen die Strafen für die Verfehlungen im früheren Leben, während die Seelen derer, die reinen Herzens hinabsteigen, zu den Inseln der Seligen auf die Elysäischen Gefilde gelangen. Was weiß ich davon? Die Völker der Antike hatten ihre eigenen Vorstellungen. Und alles, was eines Menschen Geist hervorbringt, entsteht irgendwo im Universum.«
»Dann wäre das hier ein gigantischer Friedhof versteinerter Leiber!« redete Carsten Möbius weiter. »Vielleicht die Namenlosen, die vor Troja gefallen sind!«
»Denk dir selbst etwas aus!« Asmodis wurde unfreundlich. »Ich sehe es als Realität an – aber ich spüre, daß auch in diesen Steinen Leben ist. Wer immer das war und welchem Volk diese Menschen immer angehörten – ich erkenne, daß sie uns spüren. Und sie sind eifersüchtig, weil wir Leben in uns tragen, wovon sie seit dem Beginn ihrer Ewigkeit träumen. Wehe uns, wenn sich eine Kraft erhebt, die sie zu Leben erweckt. Denn dann wird es uns übel ergehen. Stell dir vor, daß diese Steinwesen plötzlich in Bewegung geraten und du weißt, was ich fürchte!«
»Daran will ich lieber erst gar nicht denken!« schauderte Carsten Möbius.
»Dann beweg dich etwas schneller, daß wir diese Todeszone hinter uns bringen!« mischte sich Professor Zamorra ungehalten ein. Zwar hatte er nicht das Gespür des Asmodis, aber die Hand, die zufällig das Amulett berührten, zeigte unmerkliche Vibrationen an. Merlins Stern wollte warnen.
Doch ob die Kraft der entarteten Sonne Schutz oder Waffe gegen die unbekannte Gefahr war, wagte Zamorra zu bezweifeln.
Asmodis’ Schritt wurde schneller und schneller. Schließlich wurde aus dem Gang eine Art Dauerlauf. Professor Zamorra nahm Carsten Möbius an der Hand und zog ihn hinter sich her.
Der ehemalige Teufel wußte genau, was er tat. Als Professor Zamorra zufällig an den Wänden emporsah, erkannte er zu seinem Entsetzen, daß sich die Wände der Schlucht wie in Zeitlupe verformten. Die toten Versteinerungen erwachten zum Leben. Schon waren stöhnende Geräusche zu vernehmen, die aus Grabestiefen zu kommen schienen. Worte und Satzfragmente in einer Sprache, deren Klang für Zamorra fremd und unwirklich war.
»Sie erwachen!« stieß Asmodis hervor. »Unsere Lebensenergie, die von unserem Körper ausstrahlt, weckt sie auf. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sie sich vollständig bewegen können, um sich auf uns zu stürzen. Aber dann kann es zu spät sein. Hütet euch, die Wände zu berühren. Wenn sie direkten Kontakt mit dem Körper haben, dann ziehen sie alles Leben heraus und ihr werdet Steine wie diese Toten. Vorwärts! Dort vorn ist die Schlucht zu Ende. Ich spüre Wasser vor uns. Wenn wir es erreichen, sind wir gerettet!«
Die Worte des Asmodis ließen Zamorra und Carsten neue Hoffnung schöpfen. Die Gefahr der Felswände aus steinernen, von unheiligem Leben durchpulsten Leibern, war wie lähmende Kälte in ihre Körper geflossen.
Eine übermächtige Gefahr, gegen die keine Chance der Gegenwehr bestand.
Nur die Flucht brachte Rettung.
Pulverisierte Felssubstanz wirbelte unter ihren Füßen und stieg wie eine Staubfahne hinauf…
***
In diesem Augenblick passierte es.
Carsten Möbius stolperte. Professor Zamorra konnte ihn gerade noch von der in Bewegung geratenen Felswand zurückreißen. Arme aus grauer Gesteinsmasse versuchten, ihn zu erhaschen. Hände mit spindeldürren Fingern schnappten wie Fallen zu. Weniger als eine Handbreit von den erwachenden Steinwesen ging Carsten Möbius zu Boden.
Stöhnend rappelte er sich empor. Der felsige Untergrund unter dem Gesteinsstaub war schartig und kantig. Professor Zamorra sah, daß sich der Junge die Jeans oberhalb der Knie aufgerissen hatte. Aus dem Stoff und den aufgeschnittenen Handflächen tropfte träge dunkelrotes
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