0330 - Die lebende Legende
Augenblicken der Wahrheit. Es glich schon einer Explosion, die sich endlich Luft verschaffte und mich von den Beinen riß.
Ich fiel zu Boden, trommelte mit beiden Fäusten auf der knochenharten Erde, wühlte den Staub in die Höhe und dachte nicht mehr daran, was ich mir vorgenommen hatte.
Der Schmerz überwältigte mich.
Erst als die Morgendämmerung die Finsternis der Nacht wegschob, konnte ich wieder einen einigermaßen klaren Gedanken fassen und ging dazu über, ein Grab auszuheben.
Ich besaß kein Werkzeug, nahm Steine und schaufelte zudem mit bloßen Händen den Boden auf.
Es war eine anstrengende Arbeit, die ich so gar nicht wahrnahm, weil ich weiterkämpfte und den Boden immer tiefer aufwühlte.
Tränen rannen über mein Gesicht. Ich bemerkte sie nicht einmal.
Das Grauen und der Schmerz waren einfach zu groß geworden und hatten mich gezeichnet.
Ich schluckte, keuchte und wußte nicht genau, was ich tat, denn ich arbeitete wie ein Automat.
Irgendwann konnte ich das Loch oder Grab als tief genug bezeichnen.
Ich nahm den Körper und den Kopf.
Beides begrub ich.
Als ich die sterblichen Überreste der Person in den Händen hielt, die mir alles bedeutet hatte, wäre ich fast zusammengebrochen. Da war es mir, als würden die Stimmen meiner Lehrmeister mich erreichen und mir Kraft sowie neuen Mut geben, das Unmögliche doch noch hinter mich zu bringen. Es staubte, als ich das Grab zuschaufelte.
Davon merkte ich nichts und auch nicht von der Sonne, die am Himmel erschien und einer zerplatzenden Blutorange glich, als sie ihre Strahlen über das Meer schickte und damit begann, die Feuchtigkeit zu verdampfen, so daß sich in der Ferne die Golden Gate allmählich aus den Dunstschwaden schälte.
Ein Bild, das Touristen zu wahren Stürmen der Begeisterung hinriß, mich jedoch kalt ließ, weil ich es nicht sah und auch nicht sehen wollte.
Ich dachte nur an Helen.
Sie war die einzige Frau gewesen, die ich je in meinem Leben geliebt hatte.
Man hatte sie mir genommen!
Wer ihre Mörder genau gewesen waren, konnte ich nicht einmal mit Bestimmtheit sagen. Ich würde sie mir jedoch holen.
An Helens Grab tat ich einen fürchterlichen Schwur…
***
Yakup weinte!
Durch die Erzählungen war die Erinnerung wieder zurückgekehrt und hatte ihn überwältigt. Seinen Kopf hielt er gesenkt, die Hände waren zu Fäusten geballt, er schluchzte und hatte Mühe, sich wieder zusammenzureißen und sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden.
Dann schaute er uns an.
Sein Gesicht war versteinert. Die Augen erinnerten mich an Murmeln.
Dieser junge Mann war ein Kämpfer, nein, der Tod seiner Freundin hatte ihn nicht gebrochen.
Ich zündete mir eine Zigarette an. Automatisch schaute ich zum Fenster. Seit zwei Tagen lag über London ein blauer Himmel.
Herrliches Juniwetter. Eigentlich hätten wir im Büro hocken müssen, doch Yakup wollte nicht. Wir hatten auf ihn Rücksicht genommen und von Sir James freie Bahn bekommen.
Nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, stellte ich meine erste Frage: »Wie ging es dann weiter?«
»Natürlich suchte ich die Mörder. Ich fand Spuren von ihnen, aber die verliefen sich bald. Auf der Küstenstraße war dann nichts mehr zu sehen. Meine Maschine fuhr noch. Mit ihr erreichte ich die Stadt, um anschließend in die Berge zu fahren. Ich hatte ein Ziel, ich wollte unter Freunden sein und kam zu meinen Lehrmeistern.«
»Wer war das?« fragte Suko.
»Es sind Mönche im weitesten Sinne. Sie haben mich zum Ninja ausgebildet.«
Wir waren beide überrascht, denn das hatten wir nicht gewußt.
»Stimmt das wirklich?« fragte ich.
»Ja.«
»Aber du bist kein Japaner.«
»Nein, ich bin Türke. Es gibt manchmal Ausnahmen. Es kommt bei ihnen auf den Menschen an. Zudem haben sie mich großgezogen, aber das ist eine andere Geschichte.«
»Wußtest du von Shimada?« erkundigte ich mich.
»Ja, man hat mir von ihm erzählt. Er muß eine schlimme Gestalt gewesen sein, wenn ich das so genau verfolge.«
»Und Helen kannte ihn auch.«
Yakup nickte.
»Hat dich das nicht stutzig gemacht?« fragte Suko.
»Schon, als ich über sie nachdachte. Ich habe die Spur nicht mehr weiter verfolgen können, sondern nur mit meinen Lehrmeistern gesprochen. Sie berichteten mir von Shimada und von Menschen, die schon gegen ihn gekämpft hatten.«
»Woher wußten sie das?«
Da lachte Yakup. »Ich kann sagen, daß es ihnen der Wind zugeflüstert hat. Sie wissen viel, fast alles…«
Ich nickte. »Okay, sie
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