0332 - Besuch beim Geisterhenker
aus und stützte sich ab.
Ich ging näher. An dem Kohlebecken drückte ich mich vorbei und hielt das Kreuz fest wie ein Inquisitor aus vergangenen Zeiten. Marcel wollte etwas sagen, das merkte ich ihm an. Vielleicht sollten es sogar seine letzten Worte sein, doch er bekam sie nicht über die rauhen Lippen.
Statt dessen floß eine gelbliche Flüssigkeit aus seinem Mund.
Verging er?
Im nächsten Augenblick fuhr ich herum, weil ich seltsame Geräusche vernommen hatte.
Ein geheimnisvolles Flüstern, Wispern, Schreien und Raunen.
Zunächst konnte ich mir keinen Reim auf die Geschichte machen, bis ich die Wände ansah.
Und damit auch die Gesichter.
Sie zeichneten sich innerhalb der Steine ab!
Selbst mir rann es kalt über den Rücken. Es war kein direktes Bild des Grauens oder des Schreckens, sondern ein unheimliches und auch geisterhaftes.
In der Tat waren es Geister, die ich innerhalb der Mauern entdeckte Gesichter von Männern und Frauen. Manche verzerrt, andere wiederum nur bleich, alle jedoch besaßen eines gemeinsam.
Sie gehörten nicht zu den lebenden Personen.
Ihre Stimmen drangen von allen Seiten auf mich ein, als hätte ich in diesem Raum eine moderne Quadro-Anlage aufgebaut. Ich hörte sie sprechen, wispern und flüstern. Es war eine Anklage aus längst vergangenen Zeiten, und ich wußte plötzlich Bescheid.
Das waren Marcels Opfer.
Die Geister derjenigen Personen, die durch seine Hände auf grausame Art und Weise ums Leben gekommen waren. Er hatte sie getötet, sie fanden nach dem Tod keine Ruhe und waren nun zurückgekommen, um sich an ihm zu rächen.
»Das Kreuz!« hörte ich die Stimmen raunen. »Das Kreuz und seine heilige Kraft haben dafür gesorgt. Wir sind wieder da, Folterknecht. Siehst und hörst du uns? Wir sind wieder da…«
»Ja, verdammt!« stöhnte Marcel. »Ich… ich sehe es.«
»Weißt du, was nun geschieht?«
»Haut ab…«
»Wir werden dich töten, Folterknecht. Wir werden dich so umbringen, wie du uns getötet hast. Das Kreuz lockte uns. Seine Kraft gab auch uns Kraft. Jetzt sind wir da…«
Während die Geister aus dem Zwischenreich zu ihm gesprochen hatten, waren sie von mir beobachtet worden. Ich hatte mir die Gesichter angeschaut, sie nicht genau gezählt. Ein Dutzend mochten es schon sein.
Bleiche Fratzen, ausgemergelt, gezeichnet von den tiefen Spuren der Tränen.
Große Augen, offene Münder, die Schreie entlassen wollten, aber nicht konnten. Qual in den Blicken, doch auch der Wille einer furchtbaren Rache.
Sollte ich versuchen, dem Folterknecht zu helfen?
Nein, er war kein Mensch, er war ein vom Teufel Geschickter, wie ich es auch bei Ed Mosley erfahren hatte, und er würde seine Strafe erhalten. Dafür sorgten die, die er so grausam umgebracht hatte. Die Zeit hatte diesmal nicht den Mantel des Vergessens über die ruchlosen Taten ausgebreitet.
Plötzlich sprachen sie mich an. Mehrere Stimmen vereinigten sich dabei zu einer einzige. »Du mußt gehen, Fremder. Wir wollen mit ihm allein sein. Es ist die Zeit der Abrechnung.«
Konnte ich jetzt verschwinden?
Es ging mir nicht allein um diesen grausamen Folterknecht, auch um das Prinzip. Wenn ich ging, würde ich wahrscheinlich nie zu wissen bekommen, wie die beiden gegensätzlichen Parteien genau zueinander standen.
Der Folterknecht hatte genau verstanden, wie ich reagieren sollte.
Und er wollte nicht, daß ich ging.
»Nimm mich mit!« keuchte er. »Verdammt, nimm mich mit. Du kannst mich hier nicht allein lassen. Die sind zurückgekommen und machen mich fertig. Die werden mich vernichten. Die…«
Ich konnte keine Antwort geben, denn ich spürte einen seltsamen Druck. Ein anderer hatte die Kontrolle über meinen Körper gewonnen, und der machte mit mir, was er wollte.
Er schob mich zurück.
Ich versuchte mich dagegen aufzulehnen, es klappte nicht. Die andere Macht war stärker.
Ich setzte mich in Bewegung. Einen Schritt, den zweiten und dabei in Richtung auf die Falltür zu. Ein Unsichtbarer leitete meine Schritte, und dieser Unsichtbare stand mit dem Kreuz in Verbindung.
Es trieb mich dem Ausgang entgegen!
Meine Verwirrung wuchs. In diesen Augenblicken stellte ich fest, daß mein Kreuz nicht mehr mir, sondern fremden Mächten gehorchte, weil von ihnen die treibende Kraft ausging.
Es war schlimm.
Zwar brach für mich keine Welt zusammen, aber daß ich mein Kruzifix nicht lenken konnte und die hier wohnenden Geister die Kontrolle übernommen hatten, erschreckte mich schon.
Es hatte auch keinen
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