0334 - Der Hexenspiegel
Westen, da gab es Frauen und Männer, die sich der Jagd auf diese Phänomene verschrieben hatten, die gegen dämonische Wesenheiten kämpften und die Magie aus sich heraus einsetzten, um Magie mit Magie zu bekämpfen. So, wie Boris Saranow es in dieser Nacht getan hatte, als er den Spiegel mit dem Bannspruch belegte.
Aber dieses Kämpfen war nicht sein Metier. Vielleicht war es ratsam, einen jener westlichen Geisterjäger zu Hilfe zu holen. Es mußte doch möglich sein, im Namen der Wissenschaft die Grenzen zwischen Ost und West zu sprengen. Saranow beschloß, mit Semjonow darüber zu reden.
Der KGB-Mann mußte entscheiden.
Saranow hatte auch schon einen Kandidaten. Unter den Parapsychologen tat sich besonders jener Franzose mit spektakulären Aktionen hervor, wie man so hörte. Er gab nur noch hin und wieder Gastvorlesungen an den Universitäten und widmete sich fast nur noch der Praxis. Er schrieb Bücher, Artikel und Abhandlungen und war ständig überall in der Welt unterwegs.
Professor Zamorra.
Lebte er nicht in einem Schloß an der Loire? Feudal, feudal. Ein paar Telefonate würden die genaue Adresse klären, und dann wollte Saranow ihn anrufen, diesen Franzosen. Vorausgesetzt, Semjonow spielte tatsächlich mit.
Aber warum sollte er es nicht tun? Er war ein durchaus vernünftiger Mann, der seine Vorschriften auch einmal etwas lockerer auslegte. Man konnte mit ihm reden. Kapitän Igor Semjonow hatte in den 30 Jahren seines Lebens schon eine Menge an unglaublichen Dingen gesehen, und er hatte gelernt, auch mal fünfe gerade sein zu lassen.
Saranow seufzte.
Da hörte er das knirschende, leise Geräusch. Es kam von der Tür her.
Saranow setzte sich auf dem Bett auf. Seine Hand glitt zum Schalter der Nachttischlampe. Das Licht flammte auf. Saranow sah, wie der Schlüssel sich langsam, wie von Geisterhand bewegt, drehte und die Tür entriegelte.
»Verdammt«, murmelte der Parapsychologe.
Im nächsten Moment wurde die Zimmertür geöffnet. Aus dem verdunkelten Korridor schlüpfte eine schlanke Gestalt ins Zimmer. Hinter der Gestalt glitt die Tür wieder ins Schloß.
Boris Saranow hielt den Atem an. Vor ihm im Zimmer stand eine dunkelhaarige, schöne und völlig nackte junge Frau.
***
Zamorra gab nicht auf. Er wollte wissen, wo die fremde Macht ihren Ursprung hatte. In den späten Abendstunden fühlte er sich wieder soweit erholt, daß er einen weiteren Versuch starten konnte.
»Du solltest dich von mir unterstützen lassen«, schlug Nicole vor.
»Wenn wir uns zusammenschließen, kannst du notfalls Kraft von mir entleihen.«
»Das ist vielleicht nicht das Schlechteste«, gestand Zamorra.
Zwischenzeitlich war das Bad sorgfältig gesäubert und ein neuer Spiegel aufgehängt worden. Zamorra nahm ihn von der Wand und stellte ihn mit der Rückseite nach vorn auf. »Vorsichtshalber«, sagte er. »Wenn wir ihn brauchen, hängen wir ihn jeweils wieder hin. Ich mißtraue allen Spiegeln.«
Er breitete eine Landkarte auf dem kleinen Tisch aus, die er sich hatte besorgen lassen. Eine Rußlandkarte hatte er verlangt, da die aber auf die Schnelle nicht zu bekommen war, mußte es auch eine Weltkarte tun.
Nur war die naturgemäß wesentlich oberflächlicher.
Zamorra hoffte, daß es trotzdem wenigstens einigermaßen funktionieren würde. Zusammen mit Nicole versetzte er sich in Halbtrance. Ihre Bewußtseine berührten sich, und sie wurde dessen teilhaftig, was er gesehen hatte, als er über den Glassplitter herauszufinden versuchte, wer hinter dem unheimlichen Geschehen steckte. Sie saßen in den beiden Sesseln nebeneinander vor dem Tisch mit der Karte und berührten einander mit den Händen. Die körperliche Berührung verstärkte den geistigen Kontakt. Sie verschmolzen förmlich miteinander, und ihre Kraft verstärkte sich gegenseitig.
Das Amulett lag auf der Karte. Zamorra hatte es etwa in die Mitte des Gebietes der Sowjetunion gelegt und aktiviert, ohne eine bestimmte Funktion zu wünschen. Merlins Stern war wach, wartete darauf, daß die Aktion an ihn herangetragen wurde. Noch geschah nichts.
Zamorra rief die Erinnerung ab an das, was er erlebt und empfunden hatte. Da waren Augen gewesen… er hatte durch diese Augen sehen können, einen Kalender mit russischer Schrift…
Wo waren diese Augen?
Irgendwie versuchte er an der unsichtbaren Brücke, die in der Vergangenheit bestanden hatte, entlang zu gehen, den anderen Endpunkt mit seinem Geist zu erreichen. Rußland war so groß…
Er glaubte zu schweben.
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