0335 - Die goldenen Skelette
hast?«
Der junge Italiener zuckte zusammen. »Was hast du da gesagt?« flüsterte er. »Ein Skelett?«
»Ja, ein goldenes.«
»Du hast es also gesehen?«
Engel lachte. »War ja nicht schwer. Es stand in der Felswand. Nach seinem Auftauchen warst du verändert.«
Luigi gab keine Antwort. Statt dessen streckte er den rechten Arm aus, so daß sich die Hand allmählich dem im Zündschloß steckenden Schlüssel näherte.
»Was hast du vor?« fragte das Mädchen.
Er drehte den Schlüssel herum. »Wir fahren weiter.«
»Du nimmst mich also mit?« fragte sie in das Aufröhren des Motors.
»So ist es.«
»Wie kommt es zu deinem Sinneswandel?«
Er hob die Schultern und wollte nichts mehr sagen. Dabei startete er so schnell, daß Engel gegen die Rückenlehne gedrückt wurde.
Unter den Rädern spritzten die kleinen Steine weg. Die nächste Kurve nahm der junge Mann noch schärfer, und der Wagen geriet in den Schatten der Weinberge.
Steiler wurde der Weg. In Serpentinen schraubte er sich in die Höhe, und nach einigen Kurven gelang es dem Mädchen, das Ziel zu erkennen.
Vor sich, auf einem Hügel, entdeckte Engel das Gebäude. Es war nur deshalb zu sehen, weil hinter einigen Fenstern Licht brannte und sie deshalb wie gelbe Augen wirkten.
»Da ist es, nicht wahr?«
»Ja«, erwiderte Luigi.
»Ihr wohnt sehr schön.«
»Sicher.«
Mehr sagte er nicht. Er fuhr nur, und es dauerte nicht lange, da wurde die Straße breiter. Sie führte direkt auf das schloßartige Haus der Canottis zu.
Zunächst wunderte sich Engel, daß der Fahrer nicht vor dem Haus stoppte, sie fragte auch nicht nach und sagte auch keinen Ton, als der junge Mann den Wagen um das Schloß herumlenkte und so an die Rückseite geriet.
Dort stoppte er neben einem anderen Fahrzeug. Es war ein großer Amerikaner, ein Ford. Seine Metalliclackierung glänzte wie poliertes Silber.
»Aussteigen«, sagte Luigi.
»Und dann?«
Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Wirst du schon sehen. Ich bin gespannt, was meine Mutter zu dir sagt.«
»Du hängst sehr an ihr, wie?«
»Ja.«
Mehr sagte er nicht. Er öffnete dem Mädchen auch nicht die Tür, also mußte Engel allein aussteigen. Sie drehte sich aus dem Wagen, stellte sich hin und erschrak, denn vor ihr stand ein Mann, den sie zuvor nicht hatte kommen sehen.
Der Mann starrte ihr ins Gesicht. Hinter seiner dicken Hornbrille hatten die Augen einen düsteren Ausdruck angenommen. Die fleischigen Lippen lagen aufeinander, die Winkel des Mundes waren verzogen. Ohne Engel anzusprechen, schaute er über ihre Schulter hinweg und wandte sich an seinen Sohn.
»Wer ist sie?«
Luigi kam näher. »Ich habe sie aus dem Dorf mitgebracht.«
»Mußte das sein?«
»Zuerst ja, aber dann…«
»Genau das ist es. Aber dann . Du hast es gesagt.« Der Blick des Mannes pendelte sich wieder auf das Mädchen ein. Engel spürte ihn über ihren Körper tanzen, und sie verglich ihn mit dem sezierenden Messer eines Chirurgen.
Über ihren Rücken rann es kalt. Etwas störte sie an diesem Blick, auch an der gesamten Atmosphäre. Sie hatte sich verdichtet. Sie war unheimlicher geworden. Aus der Ferne glaubte sie, das Brummen eines Flugzeugs zu hören, doch das war unwichtig geworden. Sie konzentrierte sich auf ihr Gefühl, und das steigerte sich zur Angst.
Sie gestand sich ein, einen Fehler gemacht zu haben, als sie mitgefahren war.
Von der Seite her vernahm sie knirschende Schritte. Luigi kam.
Sie schaute hin.
Aus dem Dunkel geriet er in das Licht der Scheinwerfer. Wie immer schritt er ein wenig steif. Er wirkte so arrogant und gleichzeitig bubihaft. Das perfekte Muttersöhnchen, das unter einem unnatürlichen Schutz der Familie stand. Doch etwas paßte nicht zu dieser Beschreibung.
Es war die Waffe, die Luigi in der rechten Hand hielt.
Eine mit Hartgummi verkleidete Stahlrute!
Die hätte eher in die Faust eines Rockers gehört, aber nicht in die Hand des Muttersöhnchens Luigi.
Engel konnte sich sehr gut vorstellen, was die Waffe bedeutete.
Wenn sie nicht genau das tat, was Luigi und sein Vater verlangten, würden diese zu härteren Maßnahmen greifen.
Noch gab es die Chance zur Flucht!
Wahrscheinlich rechneten beide nicht damit, aber sie riskierte es einfach, drehte sich auf dem Absatz herum und jagte weg. Es gab nur eine Richtung, in die sie laufen konnte, denn zur rechten Seite hin wurde ihr der Weg versperrt. Erstens durch das Auto, und zweitens durch die Mitglieder dieser unheimlichen Familie.
»Halt sie fest!«
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