0335 - Die goldenen Skelette
den Druck der Finger an seinem Arm spürte, blieb er stehen.
Das Mädchen schaute ihn an. »Du hast doch sicherlich einen Wagen in der Nähe stehen?«
»Ja…«
»Dann hol ihn.«
»Nein, wir gehen hin.«
»Meinetwegen.« Sie lächelte amüsiert und hängte sich bei ihm ein, als sie den Weg nach links einschlugen und in eine schmale Gasse gingen, die bergab führte. Es war eine Sackgasse, an deren Ende der Wagen des jungen Mannes stand.
Eingekeilt zwischen zwei alten Fiats parkte der metallicglänzende Lancia. Er gehörte Luigi. Sein Vater Romano hatte ihn seinem Sohn vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt.
Wenn jemand in der Gegend heiß fuhr, dann war es Luigi. Und jeder Polizist drückte ein Auge zu. Niemand wollte es sich mit der Familie verderben. Luigi holte den Schlüssel aus seiner Seitentasche und öffnete den Wagenschlag. Engel schob sich an ihm vorbei in den Wagen und öffnete den Riegel der Beifahrertür.
Wie selbstverständlich stieg sie ein und schnallte sich an. Genau in dem Augenblick, als Luigi die Tür zurammte.
Dann startete er.
Eine Drehung mit dem Zündschlüssel, ein sattes Geräusch erklang, als der Motor aufheulte. Aus dem Auspuff röhrte es. Die dünne Abgasfahne war dunkelgrau, als sie aus der Öffnung stob und sich sofort in der Luft verteilte.
Dann ging es ab.
Unter den Breitreifen knirschte der umherliegende Kies. Schnell schaltete Luigi höher. Er jagte durch die enge Gasse. Das dröhnende Fahrgeräusch wurde von den Hauswänden zurückgeworfen, als würde der Lancia durch einen Tunnel rasen.
Die Disco huschte vorbei, eine Rechtskurve, wieder eine Gasse, die auf einen Platz mündete, von dem eine breitere Straße in die Berge abzweigte.
Die nahm Luigi.
Normalerweise wurde er am Lenkrad zum Tiger. Diesmal jedoch hockte er verkrampft dahinter und glich einer schwitzenden Schaufensterpuppe. Er hatte seine Unterlippe vorgeschoben. In seinen Augen leuchtete es, als er auf den gelben Teppich schaute, den die Scheinwerfer vor den Reifen auf die Fahrbahn schleuderten.
Das Dorf hatte er schnell passiert. Er schaltete und fuhr automatisch.
Wie ein Mensch kam er sich nicht vor, eher wie ein im Wagen sitzender Fremdkörper. Seine Gedanken beschäftigten sich allein mit dem goldenen Skelett.
Es war also keine Lüge gewesen, die ihm sein Vater zum 21.
Geburtstag erzählt hatte. Es gab diese Skelette, und es existierte eine Verbindung zwischen den Wesen und der Familie Canotti.
Wie diese Verbindung genau entstanden war, konnte Luigi nicht sagen. Er hatte nur beim ersten Anblick das Gefühl gehabt, zu diesem Skelett hingezogen zu werden. Es war ihm fremd und dennoch so vertraut. Diese Tatsache mußte er zunächst einmal verdauen.
Engel sagte nichts.
Sie saß neben ihm. Hin und wieder verdrehte sie die Augen. Dann schaute sie auf den Fahrer und sah dessen steinern wirkendes Gesicht.
Sie zeigte auch keine Angst, obwohl der junge Mann den Lancia hart und rasant durch die engen Kurven zog.
Da es lange nicht mehr geregnet hatte, wirbelten die Reifen gewaltige Staubwolken in die Höhe, die als dicke Schwaden über dem Wagen hervorquollen und ihn begleiteten.
»Wie lange müssen wir noch fahren?« fragte das Mädchen.
»Wir befinden uns bereits auf dem Land meines Vaters.«
»Besitzt er auch Weinberge?«
»Ja.«
»Und die Eisfabrik?«
»Woher weißt du das?«
»Man erzählt es sich.«
Dieser letzte Satz gab den Ausschlag. Luigi lenkte den Wagen an den Straßenrand und trat auf die Bremse. Der Lancia kam rutschend zum Stehen.
Das Mädchen war von dem Gurt aufgefangen worden. »Was hast du?«
Luigi drehte ihr das Gesicht zu. Hinter den Gläsern der Brille wirkten die Augen wie schwarzes Eis. »Du mußt aussteigen.«
»Wieso?«
»Geh raus. Ich habe es mir anders überlegt. Ich kann dich nicht mitnehmen. Jetzt nicht mehr.«
Engel lachte unecht. »Tut mir leid, Luigi, das verstehe ich nicht. Erst wolltest du mich unbedingt deiner Mutter vorstellen, und nun bekommst du kalte Füße. Machst du das mit allen Mädchen, daß du sie auf halber Strecke aussetzt?«
»Nein, es ist eine Ausnahme.«
»Ich sehe nicht ein, daß ich die Ausnahme sein soll.«
»Es muß sein!«
Engel schüttelte den Kopf.
Luigi Canotti ballte die Hände. »Wenn du nicht freiwillig aussteigen willst, muß ich dich hinauswerfen. Es tut mir selbst leid, aber ich kann nicht anders.«
Nun sagte das Mädchen etwas, das Luigi erschreckte. »Hängt es vielleicht mit dem Skelett zusammen, das du gesehen
Weitere Kostenlose Bücher