034 - Die toten Augen
sich dauernd unruhig im Bett herum, so daß Jane ihn von selbst wieder bat, in dem anderen Zimmer zu schlafen. Und das tat er sofort.
Eine Nacht nach der anderen verging, ohne daß etwas geschah. Der Graf zog sich immer mehr zurück, grübelte Tag und Nacht, wirkte völlig geistesabwesend und schien sich nicht entschließen zu können, etwas zu tun.
Wenn er nicht vor sich hinstarrte, begann er immer wieder von neuem, die Handschellen abzuschleifen, zu polieren. Sie glänzten schon, als seien sie neu. Wenn er müde war, sie zu betrachten, steckte er sie wieder in die Tasche.
Diese Handschellen würden also eine Rolle spielen in der Tragödie, die bevorstand. Was wollte er nur mit seinem Sohn machen, wenn er gefesselt war? Das gleiche, was er mit seiner Frau getan hatte? Oder gab es noch andere Strafen?
Der Verwalter spürte, wie bei diesen Gedanken Schweißtropfen auf seine Stirn traten. Angst und Wut erfaßten ihn gleichermaßen. Hilflos ballte er die Fäuste.
„Ich werde ihn daran hindern, eine neue Untat zu begehen, und wenn ich ihn mit meinem Revolver töten muß“, schwor er sich.
Wenn der Graf seine Handschellen sorgsam pflegte, so polierte Matthew seinen Revolver, nahm die Patronen heraus und tat sie wieder hinein, drückte auf den Abzug, wenn die Waffe leer war. Und eines Tages ging er sogar in den hintersten Winkel des Parks und zielte auf einen Baum, um zu sehen, ob die Pistole funktionierte. Und sie funktionierte sehr gut.
Eines Tages verließ der Graf seine Räume in der ersten Etage und ging unruhig und scheinbar ziellos durch die Gänge des Erdgeschosses. Der Verwalter sah, wie er immer wieder Blicke zur Kellertür warf.
Heute passiert es, dachte Matthew. Er hat sich entschlossen. Er bereitete sich darauf vor. Ich muß aufpassen.
Und vielleicht hätte die Tragödie wirklich in dieser Nacht ihren Lauf genommen, wenn nicht etwas Unvorhergesehenes eingetreten wäre. Im Grunde handelte es sich um ein ganz unbedeutendes Ereignis, aber es bedeutete doch noch Aufschub.
An diesem Vormittag brachte der Briefträger einen Brief ins Schloß. Jane ging an die Tür, als es klingelte.
„Ein Brief für die Gräfin“, sagte der Postbote. „Er kommt aus Paris!“
Der Briefträger machte keine Anstalten zu gehen. Wahrscheinlich wollte er noch ein wenig plaudern, oder er erwartete, daß Jane ihn auf ein Glas Wein ins Büro bat. Er sah erschöpft aus. Das Schloß lag auf einer Anhöhe, ziemlich weit vom Dorf entfernt. Aber Jane hatte keine Lust, ihn hereinzulassen.
„Wie geht es den Herrschaften?“ fragte der Postbote neugierig.
Jane hätte beinahe eine schnippische Antwort gegeben. Aber sie nahm sich zusammen und sagte in gleichmütigem Tonfall:
„Mylord geht es gut. Aber die Gräfin ist krank.“
„So?“
Er erwartete offensichtlich eine genauere Auskunft.
„Ja“, sagte Jane nervös. „Sie hat eine Augenkrankheit.“
Sie ärgerte sich, daß sie diese Antwort gegeben hatte und brach das Gespräch ab.
„Danke“, sagte sie. „Ich werde den Brief abgeben.“
Und dann schloß sie die Tür vor der Nase des verdutzten Briefträgers. Sie eilte sofort hinauf in den Arbeitsraum, klopfte an, und übergab den Brief ihrem Herrn. Neugierig blieb sie stehen und wartete, daß er den Brief öffnete. Seit sie zu einer Art Komplizin des Grafen geworden war, erlaubte sie sich mehr, als sie früher gewagt hätte.
„Haben Sie mir etwas zu sagen?“ fragte der Graf, ohne den Brief zu öffnen.
Sie zögerte, entschlossen, ihm Angst einzujagen. Dazu war ihr jedes Mittel recht, auch eine Lüge, die ihn in die Enge treiben und gefügiger machen würde.
„Ich habe etwas vom Postboten erfahren“, begann sie. „Es scheint, daß im Dorf ziemlich viel geredet wird.“
„Was redet man denn?“ fragte er überrascht.
„Nun ja, jedermann weiß, daß Mylord und Mylady vor über einem Jahr mit ihrem Sohn hierhergekommen sind. Aber niemand sieht sie in der Öffentlichkeit, und wenn es nur ein Spaziergang wäre. Man wundert sich darüber, daß sie auf dem Schloß so zurückgezogen leben. Das Kindermädchen der Baronin D. hat mir im Gemüseladen gesagt, daß ihre Herrin das sehr merkwürdig fände. Sie nehmen keine Einladung an, und Sie haben bekanntgemacht, daß niemand Sie besuchen soll. Man findet das verdächtig. Mylord, verzeihen Sie meine offenen Worte. Ich sage Ihnen das in Ihrem eigenen Interesse.“
„Wirklich? Und was haben Sie geantwortet?“
„Dem Briefträger? Ich habe ihm gesagt, daß die
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