0342 - Schädeltanz
trügerisch. So nutzte er die sich bietende Gelegenheit. Auch Nicole war es nicht danach, das Nachtleben von Phoenix kennenzulernen. So waren sie am nächsten Morgen einigermaßen fit und konnte noch im Flugzeug weiterschlafen.
Gegen zehn Uhr landete es auf dem großen Flughafen der erdbebenerschütterten Riesenstadt. Die gewaltigen Schäden waren noch längst nicht beseitigt worden. Trotzdem bot die Stadt mit ihren weit über zweieinhalb Millionen Einwohnern auf der Hochfläche zwischen den schneebedeckten Bergen einen faszinierenden Anblick. Verstopfte Straßen, farbenprächtig gekleidete Menschen, bettelarm und schwerreich nebeneinander. Hochhäuser, Holzhütten. Breite Durchgangsund Geschäftsstraßen, schmale Gassen. Blitzsaubere Villen und abfallgesäumte Häuserketten, wo sich in den Armenvierteln alles dicht an dicht drängte. Patrouillierende Polizisten, gewitzte Taschendiebe. Barfüßige Jugendliche und Kinder, die beim Ampelstopp zwischen den Autos hin und her wieselten und allerlei Dinge den Fahrern zum Verkauf anboten; Nicole beobachtete, wie einer der Burschen einem wartenden Fahrzeug, hinter dem Fahrzeugheck geduckt, die Rückleuchtenabdeckungen abschraubte und sie ein paar Meter weiter einem anderen Fahrer, der das gleiche Modell fuhr und zersplitterte Leuchtengläser hatte, zum Kauf anbot. Zeitungsjungen wedelten mit ihren Gazetten und schrien sich die Sensationsmeldungen aus dem Hals.
Zamorra mit seinem Faible für romanische Sprachen verstand genug von dem, was die Jungen riefen, um aufmerksam zu werden. »Höre ich da richtig von einem Vampir?« Er kurbelte die Scheibe des Mietwagens herunter, den sie besorgt hatten, und winkte den Jungen herbei. Er drückte ihm ein paar Münzen in die Hand und nahm die Zeitung entgegen. Nicole fuhr; im Großstadtgewühl hatte sie die besseren Nerven, den ausladenden Straßenkreuzer amerikanischer Konstruktion zwischen den anderen nicht weniger ausladenden Straßenkreuzern ebenfalls amerikanischer Konstruktion zu manövrieren. Zuweilen blieben nur wenige Zentimeter Platz, und Zamorra schaute schon gar nicht mehr hin, weil er ständig um Zierleisten und Rückspiegel fürchtete. Nicole lenkte den betagten Chevrolet Caprice souverän dem Hotel entgegen, in dem sie telefonisch Zimmer bestellt hatten.
So hatte Zamorra während der Fahrt vom Flughafen zum Hotel mit unzähligen Ampelstopps Muße, nach dem Artikel zu suchen, in dem offenbar von einem Vampir berichtet wurde. Er verstand genug spanisch, um den Text lesen zu können.
In Cuernavaca war ein totes Mädchen gefunden worden, dessen Körper blutleer war. Am Hals befanden sich Bißmale. Der Reporter hatte es sofort als Sensation hochgetrieben und schrieb über gefährlichen Vampirismus. Er ließ dabei offen, ob es sich um einen wirklichen Vampir handelte - an den ohnehin niemand glauben könne, weil es derlei teuflische Kreaturen doch nur in den verderblichen amerikanischen Gruselfilmen gäbe, die dazu geeignet seien, aufrechte christliche Mexikaner zu verwirren und den Gringos harte Dollars in die Taschen zu schieben - , oder ob es der Ritualmord eines Wahnsinnigen sei, der auf dem Horror-Trip war. Alles in allem brachte der Artikel, den Zamorra übersetzend vorlas, nicht viel. Es war hauptsächlich Effekthascherei.
»Wenn man das Geschwafel des Reporters wegläßt, haben wir nichts als die Leiche eines Mädchens, die blutleer und mit Bißwunden am Hals gefunden wurde«, faßte Zamorra zusammen. »Trotzdem… irgendwie habe ich das Gefühl, daß da doch was dran sein könnte.«
»Das heißt, du willst dich um diesen Vampir kümmern, ja?« fragte Tendyke von der Rückbank des Wagens.
Zamorra nickte.
»Sieh erst mal zu, daß wir dein Amulett wiederfinden«, verlangte Tendyke. »Wie willst du dem Vampir überhaupt zuleibe rücken? Nach klassischer Art mit Hammer und Eichenpflock oder Knoblauch?«
»Das dürfte einen Vampir von den Socken holen«, stellte Zamorra gelassen fest. »Wenn es nicht gerade ein Dämon mit vampirischen Gelüsten ist, auf jeden Fall. Van Helsing und Harker hatten auch keine magischen Superwaffen, als sie Dracula auf den Pelz gerückt, sind.«
»Hm«, machte Nicole. »Trotzdem bin ich dafür, eins nach dem anderen in Angriff zu nehmen. Wir sollten noch einmal eine Beschwörung vornehmen. Vielleicht erfassen wir diesmal mehr. Immerhin sind wir jetzt weitaus näher dran.«
»Natürlich«, sagte Zamorra. Er faltete die Zeitung zusammen. »Aber meine Nase sagt mir, daß an dieser
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