035 - Das Dorf der Kannibalen
Lichter brannten. Der Mond hing kalt und bleich über den Dächern der Häuser. Dorian Hunter schmunzelte unwillkürlich, als irgendwo ein Hund aufheulte, um dann den Mond anzubellen. Genau daran hatte er gerade gedacht.
Er blieb stehen. Gab es vielleicht irgendeinen Zusammenhang zwischen seinen Gedanken, Vorstellungen und Wünschen und dem, was sich in der Realität ereignete? Er dachte an den Ruf eines Käuzchens. Gespannt lauschte er in die Dunkelheit hinein – und grinste wie ein Schuljunge, als genau in diesem Moment ein Schaf blökte, jämmerlich und ängstlich.
Dorian hatte Sinn für Ironie. Genau wie ein Schaf kam er sich plötzlich vor. Sein Mißtrauen war wirklich übertrieben, wurde fast schon zur Manie.
Er ging weiter und dachte nur noch an die Begegnung mit Trevor Sullivan.
»Halten Sie mich nicht für aufdringlich«, sagte Walt Hatters, ein rosig aussehender Endvierziger. Er war aus dem Kaminzimmer gekommen und fing den zurückkehrenden Geschäftsführer ab. »Ich habe da Düfte eingeatmet, die einfach delikat sind.«
»Unsere Küche ist berühmt«, erwiderte der Geschäftsführer. »Unsere Köche haben internationale Preise gewonnen.«
»Man riecht es förmlich«, schwärmte der Tourist. »Ich habe eine Bitte, die mit meiner Marotte zusammenhängt.«
»Ich bin sicher, daß wir Ihnen jeden Wunsch erfüllen können, Sir.«
»Ich sammle Rezepte. Könnte ich einen kurzen Blick in die Küche werfen und mich mit Ihrem Chefkoch unterhalten?«
»Ich werde eine Ausnahme machen«, antwortete der Geschäftsführer lächelnd. »Normalerweise ist der Zutritt zur Küche natürlich nicht gestattet.«
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll. Kann ich mich irgendwie erkenntlich zeigen, Sir?«
»Sie würden mich beleidigen«, sagte der Kahlköpfige. »Es wird mir eine Ehre sein, Sie herumzuführen. Ich darf Sie schon jetzt auf eine besondere Spezialität unserer Küche hinweisen.«
»Sie machen mich neugierig.«
Walt Hatters bebte vor Erwartung, stellte aber keine weiteren Fragen, weil der Geschäftsführer bereits vorging. Sie benutzten eine Tür und eine Treppe seitlich hinter dem Empfang und stiegen nach unten – worüber Hatters sich kaum wunderte. Warum sollte sich die Küche des Motels nicht im Souterrain des Hauses befinden? Mit jedem Schritt stiegen ihm immer verlockendere Düfte in die Nase.
»Die Küche.« Der Geschäftsführer drückte eine Pendeltür auf. Walt Hatters schob sich an ihm vorbei und blieb zuerst andächtig, dann jedoch erstaunt und überrascht stehen. Das hatte er nicht erwartet.
»Sie wundern sich, nicht wahr?«
»Ein wenig«, gestand Hatters. »Haben Sie denn keine Herde? Ich sehe auch kein Personal.«
»Wir arbeiten nach einem völlig neuen Verfahren«, antwortete der Kahlköpfige und lächelte geheimnisvoll. »Ich bin sicher, daß Sie darüber nie sprechen werden.«
»Bestimmt«, versprach Walt Hatters und ging zögernd tiefer in den Raum hinein. Im Mittelpunkt dieser seltsamen Küche stand ein riesiger Tischbock, der die Last eines Ochsen ausgehalten hätte. Die dicke Holzplatte war weiß gescheuert und blitzte vor Sauberkeit. Auf einem Seitentisch lag wohlgeordnet ein Tranchierbesteck, das aus langen Messern, Knochenbeilen und sogar Sägen bestand.
»Sie haben die Hauptsache ja noch gar nicht bemerkt.« Der Geschäftsführer blieb vor der Front eines Backofens stehen, der in die Steinwand eingelassen war. Mit Hilfe eines gußeisernen Hebels hob er die Klappe an. Betörender Bratenduft quoll hervor und kitzelte die Nase des Amateurkochs.
Walt Hatters nickte dem Geschäftsführer anerkennend zu. »Darf ich einen Blick hineinwerfen?«
»Aber gern!«
Der Kahlköpfige zog mit seinem linken Fuß eine kleine Trittbank vor den Ofen, da sein Gast etwas klein war. »Bitte, Sir! Sie werden überrascht sein.«
Walt Hatters stieg auf die Bank und wartete, bis der Geschäftsführer den Hebel ganz herunterdrückte. Die Klappe fuhr weit auf, Hatters beugte sich vor und stierte mit vor Grauen und Entsetzen weit geöffneten Augen in den Ofen. Er faßte sich an den Hals, schnappte nach Luft und verlor plötzlich die Bank unter seinen Füßen. Starke Hände hoben ihn hoch. Er schrie gellend, strampelte mit seinen kurzen Beinen in der Luft herum, brüllte um Hilfe und wurde ohnmächtig.
Dorian Hunter hatte das Dorf erreicht und suchte nach dem Haus, in dem Trevor Sullivan festgehalten wurde. Er kannte die Gepflogenheiten des Secret Service und konnte sich ausrechnen, daß man
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