0354 - Experimente mit der Zeit
Rauchschwaden zogen träge nach Osten. Das sonst wohlvertraute Geräusch herabstürzender Stukas war längst verstummt. Die Soldaten hatten es längst nicht mehr gehört. Wenn sie Glück hatten, dann konnten sie das Brummen der Versorgungsmaschinen hören, die auf dem heiß umkämpften Flugplatz landeten und starteten. Sie brachten Munition und Verpflegung und nahmen Verwundete mit. Und hin und wieder holten sie auch Offiziere.
Dafür gab es nun andere Geräusche. Da waren die Migs, die in geringer Höhe über das Gelände huschten und die deutschen Schützengräben mit Maschinengewehren beharkten. Da war das pfeifende Heulen der Stalinorgel, deren detonierende Geschosse einen ganzen Morgen Land umpflügen konnten. Da waren die wenigen deutschen Werfer, die der Stalinorgel antworteten.
Es waren die Geräusche des Krieges.
Die Geräusche eines wahnwitzigen Krieges.
„Da kommt eine Nähmaschine am hellichten Tag!" sagte Paul plötzlich. Herbert sah nach oben, hinauf in den diesigen Himmel. Ein schwarzer Punkt war zu erkennen, der langsam näher kam. Dann war das Motorengeräusch zu hören, zuerst leise und dann immer lauter. Es erinnerte an das Tuckern eines Fischkutters. Aus dem Punkt wurde ein Doppeldecker. Er flog über das Niemandsland und hielt sich genau zwischen den beiden Fronten.
„Den schießen wir ab", sagte Gefreiter Herbert. Er sagte es ohne jedes Gefühl, denn das war ihnen in dem Krieg schon lange abhanden gekommen. Obergefreiter Paul nickte.
Wenn er nickte, so geschah das aus Gleichgültigkeit. Er empfand keinen speziellen Haß auf den Piloten in der russischen Maschine; es war sogar möglich, daß er seinen eigenen Kompanieführer mehr haßte. Aber auf den konnte man nicht schießen. Aber auf den Russen schießen, das war Pflicht. Also schoß man auf den Russen, um seinen Haß abzureagieren.
„Meinetwegen", knurrte Paul.
Ein zweiter Sandsack, den Herbert unter den Lauf des Maschinengewehrs schob, richtete diesen noch weiter nach oben. Dann, als die Maschine nahe genug herangekommen war, eröffnete er das Feuer. Paul hielt die Patronengurte.
Als die Maschine Feuer fing und schräg über die Tragfläche abrutschte, waren es eine Unzahl der verschiedenartigsten Gefühle, die von Paul Besitz ergriffen. Zuerst einmal war es die Freude darüber, überhaupt getroffen zu haben. Dieses Gefühl der Freude jedoch wich dem Gefühl der Bestürzung, als das Flugzeug mitten im Niemandsland aufprallte und explodierte. Es war dem Piloten nicht gelungen, mit dem Fallschirm abzuspringen. Er hatte geholfen, einen Menschen zu töten, einen Menschen, von dem man ihm einredete, er sei sein Feind. Er hatte ihn nicht töten wollen. Es geschah nur aus Freude am Schießen. Oder aus Haß auf seine eigenen Vorgesetzten.
„Den haben wir erwischt!, 'sagte Herbert voller Genugtuung. Dann sah er Pauls Gesicht. „Was ist denn los mit dir? Wenn uns der Hauptmann dafür nicht eine Extraration Schnaps gibt, will ich Willi heißen. Die kriegen wir bestimmt."
Paul nickte.
„So viel also ist ein Menschenleben noch wert - eine Flasche Schnaps. Hast du ihn wirklich dafür umgebracht?"
Herbert starrte seinen Kameraden verwundert an.
„Wie meinst du das? Natürlich habe ich ihn nicht für die Flasche Schnaps abgeschossen. Ich habe auf ein feindliches Flugzeug geschossen. Das ist alles. Rede doch nicht solchen Unsinn!"
Paul rückte die Patronengurte zurecht.
„Es war ein russisches Flugzeug. Natürlich mußten wir es abschießen. Ich glaube, der verdammte Hunger hat mich verwirrt. Überhaupt die ganze aussichtslose Lage. Aber der arme Teufel hat uns doch nichts getan! Er hat noch nicht einmal auf uns geschossen. Er ist bloß in der Gegend herumgegondelt und hat sich umgesehen. Dafür haben wir ihn umgebracht."
„Das ist eben der Krieg", meinte Herbert.
Paul seufzte.
„Ja, ich weiß. Der verdammte Krieg!"
Abenddämmerung senkte sich über das Land. Die dunkle Wolkenwand hatte sich weiter nach Westen geschoben, obwohl der Wind in die umgekehrte Richtung blies. Die Sicht wurde schlechter, und im Niemandsland waren kaum noch Einzelheiten zu erkennen. Die Büsche wurden zu verschwommenen Flecken, und mehr als einmal bellten Maschinengewehre auf, um schattenlose Schemen zu vertreiben. Aber dann war plötzlich das grauenhafte Heulen der Stalinorgel da, und als die ersten Einschläge die Erde rings um die Stellung von Paul und Herbert aufrissen, zogen die beiden Soldaten ihre Köpfe ein und beteten, daß ihr Loch verschont
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