036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
dritte Stockwerk schauen.«
»Ja, das verstehe ich.« Täle warf unwillkürlich einen Blick zu den
nach oben führenden Treppen. »Wenn Sie Dirk Dalquist sehen sollten«, fuhr er
fort, »richten Sie ihm bitte aus, daß Björn dagewesen ist. Ich möchte ihn
dringend sprechen. Er kann mich von Mittag an im Skal-Restaurant unten am See
erreichen.«
»Ich werde es ihm gern ausrichten, wenn ich ihn sehe, Herr Täle.«
Björn Täle nickte und ging nach draußen. Auf der anderen Seite der
Straße stand ein Kiosk; dort kaufte er sich eine Schachtel Zigaretten und die
Morgenzeitung. Auf der ersten Seite war der Mord an Siw Malström mit großen
Schlagzeilen vermerkt.
Täle schüttelte den Kopf. »Und das hier in der Nähe. Es ist
unvorstellbar.«
●
In Falun und Umgebung gab es an diesem Tag nur ein einziges
Gesprächsthema: der bestialische und rätselhafte Mord. Kommissar Lund kam am
späten Nachmittag ins Krankenhaus, wo Erik Rydaal untergebracht war. Zuvor
hatte er sich telefonisch mit dem Chefarzt abgesprochen und erfahren, daß
keinerlei Bedenken bestünden, den verletzten Schweden noch einmal zu sprechen.
»Bei Rydaal handelt es sich um einen kräftigen jungen Mann, der
die Aufregungen der vergangenen Nacht und die Erschöpfung so gut wie
überstanden hat«, meinte der Arzt, als Lund eintraf. Der Kommissar ging durch
die langen, weißgekachelten Gänge, in denen es vor Sauberkeit blitzte.
Schwestern begegneten ihm. Ein Bett mit einem Frischoperierten aus dem OP wurde
gerade in einen Lift geschoben.
Erik Rydaal lag im vierten Stockwerk des modern eingerichteten
Krankenhauses. Vor der Tür stand wie eine Statue ein Polizist.
»... nach unseren Untersuchungen zu schließen, ist es
ausgeschlossen, daß er sich die Verletzungen selbst beigebracht hat«,
antwortete der Doktor auf eine Frage Lunds. »Und auch das ermordete Mädchen
kann ihm diese unmöglich zugefügt haben. Dazu hätte sie Fingernägel wie Krallen
haben müssen, Kommissar.«
Lunds Pokergesicht zeigte nicht, was in ihm vorging. Der Kommissar
schien die Ruhe selbst zu sein, aber in Wirklichkeit brodelte in ihm ein
Vulkan. Dann mußte doch etwas an der Geschichte mit dem wilden Tier sein, von
dem Rydaal in seiner Benommenheit immer wieder gesprochen hatte! Aber sie
hatten das ganze Waldstück abgesucht - und nichts gefunden.
»Was haben die Blutuntersuchungen ergeben?« wollte Lund wissen.
»Es gibt
Blutspuren an seinen Fingern, die nicht von ihm stammen, sondern von dem
Mädchen.« <
Der Kommissar nickte. Rydaal hatte es ihm bereits in der letzten
Nacht erklärt. Bei seinem Eintreffen im Sommerhaus mußte er in seiner
Kopflosigkeit die Leiche berührt haben. Es gab einige Minuten in Erik Rydaals
Leben, die ihm fehlten, an die er sich nicht mehr erinnern konnte.
Lund war schon zu lange in seinem Beruf, um nicht zu wissen, daß
es Unsinn gewesen wäre, stur einer Spur nachzugehen. Sie mußten viele
Möglichkeiten in Betracht ziehen. Eine Anzahl von Indizien sprach eindeutig
gegen Rydaal. Aber da konnte es auch noch einen anderen Faktor geben. Eine
Person X, die Rydaal in seinem Schock als wolfsähnlich bezeichnete. Für dieses
Phantom interessierte sich Lund besonders.
Er klopfte an, nachdem er dem Polizisten durch ein Kopfnicken zu
verstehen gegeben hatte, daß er sich jetzt ein wenig die Beine vertreten oder
eine kleine Erfrischung zu sich nehmen konnte.
Dann betrat der Kommissar das Zimmer. Es standen sogar Blumen auf
dem Tisch.
Rydaal wandte den Kopf, als die Tür zuklappte. »Kommissar Lund?«
fragte er erstaunt. Der junge Schwede saß halb im Bett; man hatte ihm das
Kopfende hochgestellt. Neben ihm auf dem Glastisch lag ein Magazin. Rydaals
Hände waren in weiße Verbände eingeschlagen. Auf der Stirn hatte er ein großes
Pflaster.
»Wie geht es Ihnen?« fragte Lund mit ruhiger Stimme, während er
sich einen Stuhl besorgte und ihn direkt neben das Bett des Verletzten zog.
»Ich darf doch?« fragte er überflüssigerweise.
»Wir sind heute bei Tagesanbruch noch mal den Weg gegangen, den
Sie uns beschrieben haben, Rydaal«, fuhr Kommissar Lund ernst fort. »Wir haben
keine Hinweise dafür gefunden, daß all das stimmt, was Sie uns erzählten.«
»Es ist die reine Wahrheit, Herr Kommissar«, entgegnete Rydaal leise.
Seine Augen musterten den Mann, der neben seinem Bett saß.
»Vielleicht können Sie das Ganze noch mal kurz wiederholen. Fühlen
Sie sich dazu imstande?«
Mit ruhiger Stimme berichtete Erik Rydaal zum
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