036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
wieder. Es wird etwas Furchtbares passieren, wenn wir uns weiter so
abkapseln. Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Aber wir können diesen
Belagerungszustand nicht lange verkraften. Wir leben doch in einem
zivilisierten Land. Wir sind unschuldig, und uns kann nichts passieren. Was
damals war, hat mit dem Heute nichts zu tun.«
»Vielleicht täuschen Sie sich da.« X-RAY-3 musterte Anita Täle mit
ruhigem Blick. »Man sagt Ihnen einiges nach. Es geht in erster Linie um das
Kind, dem Sie zuerst das Leben schenkten. Die Leute hier haben sich ihre eigene
Meinung über die Geburt von damals gebildet. Man sagt, daß das Kind niemals
beerdigt wurde. Es soll kein normales Kind gewesen sein. Ist das wahr? Wenn
dieses Kind wirklich noch lebt, dann müßte es jetzt ungefähr dreißig Jahre alt
sein. War der Knabe geistesgestört? Haben Sie schon früh bemerkt, daß es sich
in einer Richtung entwickelte, die man gelinde gesagt als abnormal bezeichnen
könnte? Es gibt Stimmen, die behaupten, in den Jahren, als Ihr zweiter Sohn
Björn noch gar nicht geboren war, Kindergeschrei aus dieser Hütte hier gehört
zu haben.«
Larry ließ die Frau nicht aus den Augen. Er beobachtete die
Reaktion seiner Worte.
»Wenn Sie dieses Kind insgeheim großgezogen haben, dann wird dies
seinen Grund gehabt haben, nicht wahr? Wußten Sie um die Veranlagung?« X-RAY-3
ließ nicht locker. Er wußte: Nur wenn er scharf schoß, war damit zu rechnen,
daß er diese im Leben hart gewordene Frau aus der Reserve lockte. Er war auf
Vermutungen angewiesen, aber er sagte sich auch, daß Gerüchte nur sehr selten
aus dem Nichts entstanden. Es gab einen dunklen Punkt in der Vergangenheit
dieser Familie. »Ich kann mir denken, daß Sie Ihren Sohn lieben, aber könnte
eine Mutter - eine wahre Mutter - wirklich einen Mörder schützen?« Er
schüttelte den Kopf.
Anita Täle schluckte. »Wollen Sie damit sagen, daß ...«
Sie sprach nicht zu Ende. Zitternd strich sie sich über die
trockene, faltige Gesichtshaut.
»Das haben Sie falsch verstanden«, sagte Larry Brent sofort. »Ich
habe nur ein allgemeines Beispiel genommen.« Das Verhalten dieser Frau und
ihres Sohnes gab ihm zu denken. »Ein Wolfsmensch wird nicht alle Tage geboren.
Vielleicht war es zuerst Neugierde, wie er sich entwickeln könnte, vielleicht
aber auch ...«
Anita Täle gab einen leisen Aufschrei von sich. Ihre Knie Schienen
plötzlich weich zu werden. Björn Täle stützte seine Mutter.
Larry Brent wußte, wie sehr diese Worte die beiden erschüttern
mußten. Aber solange Frau Täle nicht bereit war, selbst zu sprechen, mußte er
sie locken, mit scharfen Mitteln vorgehen.
»In der letzten Nacht kam es zu einem Mord«, fuhr er fort. »Und
nicht nur das. Möglicherweise hat der Wolfsmensch ein weiteres Leben auf dem Gewissen.
Meine Begleiterin, Morna Ulbrandson, ist seitdem spurlos verschwunden. Da
draußen glauben alle, daß Sie dem Wolfsmenschen hier Unterkunft gewähren, daß
er sich hier aufhält und versteckt, bis zu jenen Nächten, wo ihn nichts mehr
halten kann, wo der Trieb und die Mordgier größer sind als alle Vernunft, als
alle Gewalt, die Sie auf ihn ausüben könnten!«
»So sprechen die Menschen?« flüsterte sie. Ein leises Schluchzen
kam aus ihrer Kehle. »Die Menschen sind schlecht.«
»Führen Sie den Beweis, daß Sie mit alledem nicht das Geringste zu
tun haben!« fügte Larry hinzu.
»Ein Wolfsmensch?« fragte Anita Täle, ohne die letzten Worte des
Amerikaners beachtet zu haben. »Sven?«
X-RAY-3 hakte sofort nach. »Wer ist Sven?«
Die Alte riß die Augen auf und preßte die Lippen zusammen. Sie
schlug mit einem leisen Stöhnen die Rechte vor den Mund.
»Nichts«, murmelte sie, »es ist nichts!«
Es war etwas über ihre Lippen gekommen, das sie nicht hatte sagen
wollen. Aber nun war es zu spät zum Rückzug.
»Wir können ihm vertrauen, Mutter«, unterstützte Björn Täle Larrys
Versuche, die verstockte Frau zum Reden zu bewegen. »Es ist kein Risiko, ihn
einzuweihen. Wenn er es erfahrt, wird er schweigen, davon bin
ich überzeugt. Denn in dem Augenblick, wo er sich selbst
vergewissert hat, daß wir und auch Sven nichts mit den schrecklichen Morden zu
tun haben, wird man uns in Ruhe lassen. Dann sind wir auch uninteressant für
die Leute, die jetzt noch glauben ...«
Anita Täle sah ihren Sohn angsterfüllt an. »Doktor Banson war der
einzige Zeuge, den es bisher gab. Er nahm sein Geheimnis vor zehn Jahren, als
er starb, mit ins Grab. Außer mir und dir
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