036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
Anita und Björn Täle mit ihm führten, hatte Brent den Eindruck
gewonnen, daß Sven Täle sich Gedanken über das Aussehen der Welt machte; auch
dachte er über die Geräusche nach, die er empfing. Eine Frage schien ihn seit
eh und je zu beschäftigen, und sie war auch in dem kurzen Gespräch wieder
angeklungen, das er mit seiner Mutter und seinem Bruder führte. Er versuchte,
sich Farben vorzustellen. Und er versuchte gleichermaßen, diese farbige Welt,
die es nur für einen Sehenden gab, zu begreifen. So war es nicht verwunderlich,
daß er Fragen stellte wie: »Welche Farbe hat die Luft, welche der Wind?«
●
»Verstehen Sie nun, weshalb ich Sven verbarg, weshalb ich von
Anfang an seine Existenz verschwieg? Sven sollte geschützt werden. Ich wollte
nicht, daß er als irgendeine Nummer in einem Heim verschwand, daß er vielleicht
als Sensation in einem Zirkus oder einer Wanderbühne zur Schau gestellt wurde.
Von Anfang an war mir klar, wie Svens Leben wirklich aussehen würde, käme er
mit anderen Menschen in Kontakt. Ich habe Sven beschützt. Er kam als Krüppel
auf die Welt, und ich war in den ersten Tagen nach seiner Geburt nicht
ansprechbar. Ich mußte mit einem Problem fertigwerden. Ich hatte anfangs sogar
den Gedanken, ihn zu töten und ihm ein Leben in dieser Fortschrittsgesellschaft
zu ersparen, wo jeder nur sich selbst der Nächste ist. Aber ich war seine
Mutter. Konnte ich wirklich ein Leben vernichten, das ich in die Welt gesetzt
hatte? Nein! Dr. Banson verstand mich. Er setzte seinen Namen aufs Spiel, als
wir verabredeten, Sven offiziell sterben zu lassen. Es war ein leerer Sarg, der
an einem grauen Novembertag vor dreißig Jahren in die Erde gesenkt wurde.«
Wozu die Liebe einer Mutter fähig war! Anita Täle hatte gegen das
Gesetz verstoßen, um etwas Gutes zu tun.
»Ich wollte die Welt und die Menschen vor Svens Anblick schützen.
Und ich wollte auch Sven vor Spott und Hohn bewahren. Er ist glücklich, auf
seine Art. Er hat alles, was er braucht. Er kennt die Welt nicht anders. Und er
findet sein Leben lebenswert. Und das ist doch eigentlich das Größte, was ein
Mensch sich wünschen kann, nicht wahr? So zu leben, daß er sich wohlfühlt, daß
er als Individuum seinen Teil des Lebens abbekommt.
Svens Lebenserwartung ist nicht hoch. Dr. Banson vermutete, daß er
etwa fünfunddreißig Jahre alt werden könnte. Und diese fünf Jahre, so hoffe ich
jedenfalls, werde ich auch noch schaffen. Dann wird Sven endgültig
verschwinden. Für immer, und ohne daß man eigentlich genau wußte, daß er gelebt
hat. Ich habe damals nur meinem eigenen Gewissen gehorcht, als ich mich
entschloß, Sven im Verborgenen großzuziehen. Ich bin noch heute der Überzeugung,
daß meine Entscheidung richtig war.«
Dieses hilflose, aber quicklebendige Geschöpf mit seinem Lebensmut
und seinem Wissen imponierte ihm. Sven sah anders aus, als man sich einen
Menschen vorstellte, aber er war ein Mensch. Er konnte denken und hatte Empfindungen.
»Was werden Sie jetzt tun?« Anita Täles Stimme schien aus endloser
Weite zu kommen. Die alte Schwedin flüsterte. »Sie müssen natürlich Bericht
erstatten.«
X-RAY-3 schüttelte den Kopf. »Ich war auf der Suche nach dem
Wolfsmenschen. Sven hat nichts damit zu tun.«
Er sah die Alte an, dann den jüngeren Sohn. Björn sagte leise:
»Ich werde dafür sorgen, daß die Belagerung draußen ein Ende findet. Es wäre
vielleicht gut gewesen, schon bei Beginn dieser Aktion die Polizei zu
verständigen.«
»Wir hatten Angst«, entgegnete Anita Täle, und Larry begriff,
worauf sich diese Angst bezog. Sven sollte vor jeder Aufregung, jedem
Zwischenfall geschützt werden. Anita Täle wollte diesen hilflosen Menschen
nicht unnötig belasten.
X-RAY-3 verabschiedete sich. Als er hinaustrat, blickte man ihm
erwartungsvoll entgegen.
Björn Täle, unbewaffnet, stand hinter ihm auf der Türschwelle.
»Ihr könnt beruhigt sein«, sagte Larry Brent mit lauter und klarer
Stimme. »Ich habe mir das ganze Haus angesehen. Es gibt nichts, wovor man Angst
haben muß. Der Wolfsmensch hat sich nicht hier bei den Täles versteckt. Ihr
könnt jetzt gehen.«
Brent sah sich in der Runde um.
Niemand rührte sich. Eine Welle der Feindseligkeit schlug ihm
entgegen. Murren wurde laut.
»Laßt euch nicht an der Nase herumführen!« rief einer aus der
Menge. »Was wissen wir schon von dem Fremden? Vielleicht steckt er mit den
Täles unter einer Decke? Wir wollen uns ein eigenes Bild machen!«
Zustimmung
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