036 - Der Wolfsmensch im Blutrausch
Felswänden widerhallte.
»Es ist noch nichts passiert, und es wird auch nichts passieren!«
rief der junge Mann an der Türschwelle. »Aber euch wird etwas passieren,
nämlich dann, wenn einer es wagen sollte, auch nur einen Schritt näherzukommen.«
»Zeig uns das Haus!« rief einer. »Dann wissen wir Bescheid. Zeig
uns den Bastard, den ihr versteckt haltet!«
Einige der Umstehenden lachten. Die lebende Mauer schob sich
näher.
»Bleibt stehen!«
Larry fragte den Mann neben ihm, wer der Bursche an der Tür sei.
»Das ist der junge Täle, Björn Täle. Er will uns das Haus nicht
zeigen«, erfuhr Larry beiläufig. Der Sprecher machte sich nicht einmal die
Mühe, den Amerikaner anzusehen. Er war zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, ob
die Situation sich weiter zuspitzen würde.
»Ich werde schießen«, warnte Täle. Seine Stimme klang nicht
besonders fest. Er schien sich vor seiner eigenen Courage zu fürchten. Aber X-
RAY-3, im Umgang mit Menschen erfahren, begriff, daß hier in dieser
Situation nur noch der berühmte Funke am Pulverfaß fehlte. Täle
brauchte sich nur zu einer Kurzschlußhandlung hinreißen zu lassen.
Einer der Männer trat vor. »Dann wag es!«
Täle hob das Gewehr. Auf seiner Stirn stand der Schweiß. »Nun laßt
endlich das Theater!« rief er. »Laßt uns in Frieden! Ihr werdet eine alte Frau
nicht in Unruhe und Angst versetzen ...«
»Unruhe und Angst?« rief der gleiche Sprecher zurück, mit einem
harten Gesicht und schmalen, energischen Lippen. »Vielleicht ist es der
Wechselbalg, der ihr in die Wiege gelegt wurde, Täle! Es steht doch außer
Zweifel, daß gestern Nacht das Boot hier am Haus benutzt wurde. Das wurde
gesehen. Auf der anderen Seite des Ufers ist wieder ein Mord passiert, weißt du
das schon?«
»Natürlich weiß ich das. Und das Boot, das alles ist doch ein
Mißverständnis! Ich habe es benutzt! Glaubt ihr, ich bin über den See
geschwommen?«
Er sah sich unruhig um und versuchte, in den Augen der anderen zu
lesen, was sie über ihn dachten. Hinter ihm, aus dem Haus, erklang eine leise,
brüchige Stimme. Er drehte sich nicht um, als er rief: »Schon gut, Mutter. Du
brauchst keine Angst zu haben. Von den Kerlen kommt keiner über die
Türschwelle. Und wenn, dann nur über meine Leiche!«
X-RAY-3 begriff, daß hier offenbar ein Mißverständnis die
Situation angeheizt hatte, und zwar schneller, als Kvaale geahnt hatte. Es sah
gerade so aus, als wäre er zur rechten Zeit hier aufgetaucht. Denn wie immer
die Dinge auch aussehen mochten: Das Verhalten der zwanzig Männer war auf jeden
Fall falsch. Sie hatten kein Recht zur Selbstjustiz, nicht einmal dann, wenn
sie wirklich einen berechtigten Grund hatten, anzunehmen, daß sich in dem
kleinen weißen Haus der Wolfsmensch verbarg.
Der Amerikaner bahnte sich einen Weg durch die dichtgedrängt
stehenden Menschen, die einen engen Halbkreis vor dem kleinen Wohnhaus
bildeten.
Larry schob sich vor die vorderste Reihe. Täles Blick fiel auf
ihn. »Bleiben Sie stehen!« warnte der Busfahrer ihn. Seine behaarte Rechte
umschloß fest den Lauf des Gewehres, das er in Hüfthöhe angeschlagen hielt. Der
Sicherungsflügel der Waffe war zurückgelegt.
»Ich glaube, wir sollten ernsthaft miteinander reden, Täle.« Larry
konnte nicht ganz verbergen, daß dies hier nicht sein Geburtsland war. Er
beherrschte die Landessprache nicht akzentfrei, etwas, das ihm zum Beispiel in
Frankreich kaum Schwierigkeiten bereitete. Durch seine internationalen Einsätze
konnte er sich immerhin in vierzehn verschiedenen Sprachen verständigen,
darunter in so schwierigen wie finnisch, japanisch und chinesisch.
»Was wollen Sie? Wer sind Sie?« fragte Björn Täle mißtrauisch.
»Mein Name ist Larry Brent. Ich bin einer Sonderkommission
unterstellt, die damit beauftragt wurde, die mysteriösen Vorfälle in dieser
Gegend aufzuklären«, antwortete X-RAY-3 wahrheitsgemäß, ohne auf Einzelheiten
einzugehen.
»Das heißt: Auch Sie wollen ins Haus?« Täles Stimme wurde um eine
Nuance schärfer.
Larry mußte feststellen, daß der junge Mann an der Türschwelle
übernächtigt und bleich aussah. Offenbar hatte er in der vergangenen Nacht kaum
ein Auge geschlossen. Seine Nerven waren aufs äußerste strapaziert.
»Ich möchte es anders ausdrücken, Täle«, sagte Brent mit leiser,
aber eindringlicher Stimme und kam einen weiteren Schritt näher. Die Mündung
des geladenen Gewehrs zielte genau auf ihn. »Es liegt in Ihrem Interesse, daß
wir uns
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