036 - Die Hand des Würgers
hörtest?“
„Ich bin mit Renaud durch die Kastanienallee gegangen. Dann habe ich einen Umweg gemacht, um so spät wie möglich zu meiner eigenen Wohnung zurückzukehren.“
„Wo ganz genau hast du dich befunden, als du den Schrei von Madame Vaison hörtest?“
Pascal dachte angestrengt nach. Dann schüttelte er den Kopf. „Das weiß ich ja nicht mehr! Ich weiß nur noch, daß ich mit Renaud an der Gartentür zusammengetroffen bin, und gleich darauf sind Sie dazugekommen. Wir haben alle drei denselben Gedanken gehabt, daß sie in Gefahr sei und Hilfe brauche.“
Monsieur Feras musterte ihn nachdenklich, sagte aber längere Zeit kein Wort.
„Monsieur Feras“, sagte Pascal nach einer Weile schüchtern, „Sie haben doch auch gehört, wie Madame Vaison gesagt hat, das Ding, das in ihrem Zimmer gewesen sei, habe kein Gesicht gehabt. Sie habe nur die Hand gesehen.“
Feras hob ein wenig ungehalten die Schultern.
„Irre Reden einer närrischen Frau. Es muß aber doch wirklich jemand dagewesen sein. Außer dieser Hand an ihrer Kehle hat sie doch gar nichts gesehen. So ist es doch, nicht wahr?“
Pascal seufzte. „Sie glauben mir nicht, Monsieur Feras, das sehe ich doch! Sie sind doch so klug und gebildet, Monsieur Feras; doch Sie verstehen mich nicht. Immer haben Sie für alles eine Erklärung, eine Entschuldigung … Ich weiß aber genau, daß es wahr ist, daß diese Hand …“
„Ach, so halt doch endlich den Mund!“ unterbrach ihn Feras gereizt.
Pascal griff nach seiner Jacke.
„Ich gehe jetzt, Monsieur Feras.“
„Wohin?“
„Zu mir nach Hause.“
Der alte Herr runzelte die Brauen. Flink, wie er immer war, sprang er auf und hielt Pascal fest.
„Was hast du dir jetzt schon wieder in den Kopf gesetzt? Du hast doch keine Dummheit oder Schlechtigkeit vor?“ Pascal wehrte sich und versuchte sich seinem Griff zu entziehen. „Was? Du hast vielleicht vor, dir selbst etwas anzutun, du Dummkopf? Das ist es doch, oder?“
Über das Gesicht des jungen Burschen liefen zwei dicke Tränen.
„Wenn ich doch nur Unheil anrichte, gehe ich lieber, Monsieur Feras. Ob es nun ich selbst bin, oder ob es meine Hand ist. Das kann dann nicht mehr vorkommen. Und sie wird leben.“
„Du lieber Gott!“ rief Monsieur Feras. „Jetzt setz dich erst einmal und hör mir zu! Wenn du glaubst, ich ließe dich jetzt so weggehen.“
Pascal setzte eine bockige Miene auf und machte eine Geste der Verzweiflung.
„Da läßt sich doch nichts machen! Ich tue Böses, obwohl ich es doch gar nicht will!“
Monsieur Feras überlegte. Er wußte, daß Pascal von sehr primitivem Geist war. Aber er wußte auch, daß es gerade unter solchen Leuten vorkam, daß sich ihre Gedanken in Abgründen verloren, die kein Psychologe je ausloten konnte.
„Was meinst du, Pascal“, sagte er schließlich. „Wenn du deine Hand sehen würdest, deine verlorene rechte Hand, würdest du dann glauben, daß sie nichts Böses tun kann?“
„Ja, wenn sie eingesperrt ist. Wenn ich sie in einer Truhe sehe, die mit einem Schlüssel zugesperrt wird. Und wenn sie vor allem aus dieser Truhe nicht entkommen kann.“
Und da lachte er laut, aber es war ein Lachen, das gleichzeitig unbefangen und grausam klang. Es war kein schönes, kein befreiendes Lachen.
„Aber wir können sie wahrscheinlich nicht sofort finden“, wandte Monsieur Feras ein. „Ich muß vermutlich zur Säge gehen, ich muß die Polizei und die Ärzte fragen.“
Da schien ihm plötzlich etwas einzufallen.
„Komm einmal mit mir!“ forderte er Pascal auf.
Der Bursche folgte ihm gehorsam. Sie gingen durch ein Zimmer, in dem unzählige Schmetterlinge hinter Glas ihre Flügel spreizten. Bei Tag war dieser Anblick für Pascal nicht so, beunruhigend, aber auch jetzt hatte er ein ungutes Gefühl, denn man sah immer die Nadeln, mit denen sie aufgespießt waren. Fast wirkten sie, als seien sie alle gekreuzigt.
Pascal schüttelte sich, als er sie sah. Aber Monsieur Feras stieg in den Keller hinunter.
In einer Ecke fand er eine dicke, lange Kette, die an einem Halseisen festgemacht war.
„Siehst du das?“ fragte er. „Damit hängt man einen wütenden Bullen an. Pascal, wenn du dich wirklich schuldig glaubst, wenn du überzeugt bist, daß dein Dämon dich quält und zu bösen Taten treibt, würdest du damit einverstanden sein, unter meiner Aufsicht und mit meiner Hilfe angekettet zu bleiben? Wenn du dieses Bedürfnis verspürst, etwas Böses zu tun, dann könntest du, solange du angekettet
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