0369 - Das Grauen aus dem Bleisarg
Familie. Man hielt mich fern, denn ich war angeblich dem Wahnsinn verfallen. Ich gebe zu, dass ich nicht zu ihnen passte, aber war das ein Grund, mich lebendig zu begraben? Mich in einen bleiernen Sarg zu stecken, mir die Rose in die Hand zu drücken und mich dem Wahnsinn preiszugeben? Nein, das war es nicht wert. Ich sollte in dieser Gruft elendig verrecken, richtig wahnsinnig werden, denn hier unten hörte niemand mein Schreien. Ich habe zu entkommen versucht, denn sie hatten den Deckel nicht richtig geschlossen. Ich bin die Rutsche hochgelaufen und gekrochen, habe mich blutig gekratzt, gefleht, geschrien, sogar gebetet. Erst zu Gott, dann zum Teufel, und der Satan muss es gewesen sein, der ein Einsehen hatte, da er mir einen Besucher schickte. Es war James, der Butler. Er hattemich immer gemocht. Als ich schon verhungert war, kam er zu mir. Ihm war es gelungen, das Totenhaus zu betreten, denn er wusste ja, wo ich mich befand, und er hatte sich verändert, denn James war zu einem blutsaugenden Vampir geworden. Auch mein Blut nahm er, stärkte sich dadurch und berichtete von einer fernen Rache.«
»Hattest du keine Angst mehr?« fragte Thelma leise.
»Nein, die hat er mir genommen. Ich wusste ja, dass meine Stunde kommen würde. Und ich wartete. Zu einem Vampir wurde ich nicht. Hin und wieder verspürte ich zwar den Hunger nach Blut, aber ich verfaulte trotzdem. Das Fleisch fiel von meinen Knochen, wurde zu Staub, und nur die Rose blühte weiter. All die langen Jahre, die Jahrzehnte, in denen ich erleben musste, wie grausam die Lockheads waren, denn des öfteren wurde die Klappe geöffnet. Dann warfen sie die Körper ihrer toten Feinde in die Gruft. Zeitweise war ich nur von Leichen umgeben und konnte zuschauen, wie sie allmählich vergingen. Ich aber blieb, und das Feuer der wilden Rache loderte höher und höher. Und da wusste ich, dass der Tag kommen würde. Auf der Erde gab es Kriege, die Lockheads verloren, aber sie waren nicht totzukriegen. Andere Generationen folgten. Ich geriet in Vergessenheit. Vielleicht wollte man sich nicht mehr an mich erinnern, bis eines Tages James zu mir kam. Auch er überlebte, wie er es damals versprochen hatte. Tief in feuchter Erde und in einem Grab verscharrt. Wir setzten uns zusammen und bereiteten den Plan der Rache vor. Ich bin damals lebendig begraben worden und wollte, dass mit allen Lockheads das Gleiche geschah. Deshalb lockte ich euch her. Ihr kamt in diese Gruft, die Neugierde hat euch getrieben, denn irgendwann hat jeder von euch etwas davon gehört, dass nicht alles in der Familie stimmte. Nun seid ihr da, und nun werdet ihr nie mehr aus dieser Gruft herauskommen. Ihr seid lebendig begraben. Ihr werdet die gleichen Qualen spüren wie auch ich. Ihr werdet schreien, flehen, vor Angst vergehen oder euch darüber freuen, wieder mit mir vereint zu sein. Habt ihr verstanden? Ihr steht unter meinem Bann, denn ihr habt die Rose angefasst, die für mich Leben bedeutet, aber es ist nicht das Leben, das ihr schon geführt habt. Es ist das Dahinvegetieren in der ewigen Finsternis dieser unheimlichen Todesgruft.«
Es war eine lange Rede gewesen, die das Skelett gehalten hatte.
Suko war gespannt darauf, wie die Lockheads reagierten. Irgendetwas mussten sie tun, aber sie standen da und sagten nichts.
Niemand protestierte, keiner schrie, es wurden auch keine Fragen gestellt, sie nahmen es einfach so hin. Wahrscheinlich war ihnen trotz der deutlich gesprochenen Worte nicht mal aufgegangen, in welch einer Gefahr sie sich befanden. Deshalb taten sie auch nichts und starrten Dorothy Lockhead nur an.
Bis auf Thelma. Sie hob beide Arme, schaute auf ihr großes Vorbild und sagte: »Wir danken dir für diese Worte. Wir alle sind Lockheads, und wir alle werden uns deiner würdig erweisen. Ist das versprochen, meine Lieben?«
»Versprochen«, erklang es dumpf.
Das Skelett freute sich. Es lachte und sprach gleichzeitig. »Ja, so habe ich es haben wollen, aber ihr werdet euch schon zurechtfinden. Wenn erst Hunger und Durst kommen, wird auch mein Bann nicht mehr halten, das weiß ich. Dann werdet ihr durchdrehen, euch gegenseitig töten wollen, und ich schaue zu. Ein Clan, der lebendig begraben ist, das hat es noch nie gegeben. Ich weiß nicht, wie lange der Bann anhält. Vielleicht zwei Tage oder drei. Aber ich freue mich schon darauf, dass er eines Tages bricht. Dann kommt meine zweite große Stunde der Rache.«
Damit war für sie das Thema abgeschlossen, und sie wandte sich einem
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