0376 - Der Spiegel des Spuks
tat sich etwas.
Innerhalb der Fläche bildete sich abermals ein Muster aus feinen Linien, das erst nach und nach ausgefüllt wurde. Auch Caroline sah dies und stellte fest, daß ihr die Umrisse diesmal bekannter vorkamen.
Da entstand ein Mensch!
Aus einem nicht sichtbaren Hintergrund schob er sich hervor, wurde deutlicher und erreichte genau die obere Spiegelfläche.
Dort malte er sich ab.
Das war ein Mann, ein Mensch sogar. Dunkel gekleidet. Mit einer Hose und einem Hemd, das metallisch schimmerte. Das kleine Mädchen hatte noch nie etwas von einem Kettenhemd gehört, deshalb kam es auch nicht auf den Begriff.
Für einen Moment blieb der dunkelhaarige Mann mit dem schattenhaften Gesicht unbeweglich stehen. Er trug ein Schwert in der rechten Hand, trat einen Schritt nach vorn, hob dabei den Arm, und im nächsten Augenblick stach die Schwertklinge als erste aus dem Spiegel, wobei sie von einem Sonnenstrahl getroffen wurde und genau an dieser Stelle aufleuchtete.
Caroline, die dastand und mit unbewegtem Gesicht beobachtete, atmete laut und manchmal auch stöhnend. Sie hatte jetzt nur noch Augen für den Mann und sein Schwert.
Damit konnte er sicherlich die Spinne töten. Aber wäre dann nicht auch die Mutter vernichtet?
Caroline schüttelte den Kopf. Obwohl ihre Mutter sich auf so grauenvolle Art und Weise verwandelt hatte, durfte der andere sie nicht vernichten. Vielleicht ließ sich ja noch alles rückgängig machen, so daß sie wieder normal wurde.
»Nicht töten!« flüsterte das Mädchen. »Du darfst sie auf keinen Fall töten. Ich will das nicht. Nein…«
Wenn der andere das Kind gehört hatte, was durchaus sein konnte, so zeigte er es nicht. Seine Aufgabe war klar, das bekam Caroline sehr bald zu sehen. Er schritt auf die Spinne zu.
Weit brauchte er nicht zu laufen. Nur mehr eine Stufe trennte ihn von seinem Ziel, neben dem er stehenblieb, das rechte Bein in die Höhe schwang und sich auf den Rücken der Spinne setzte, als wäre sie ein völlig normales Pferd.
Das Mädchen traute seinen Augen nicht. Ihr Gesicht war vor Staunen erstarrt, der Mund stand offen, in den Winkeln hatten sich kleine Speichelbläschen gebildet.
Instinktiv erfaßte Caroline, daß sie der großen Gefahr noch längst nicht entronnen war, denn der andere drehte plötzlich seinen Kopf so, daß er das Mädchen anstarren konnte, während sich die Spinne zur gleichen Zeit umwandte.
Die Blicke trafen sich.
Sie waren hart, fordernd und gnadenlos. Ein Erwachsener hätte vielleicht gesagt, vernichtend.
Das spürte auch die Kleine.
Ihr kam es in den Sinn, nur eines zu tun. Umdrehen, das Rad nehmen und wegfahren. Irgendwohin, wo Menschen lebten, die sie beschützen konnten.
Sie wohnten einsam, am Waldrand, der Vater war Förster und unterwegs im Revier.
Wer konnte ihr helfen?
Caroline schaltete diesen Gedanken ab, da die Spinne sich in Bewegung gesetzt hatte und einen neuen Kurs einnahm.
Der zielte auf sie.
Das Monstrum und der Mann mit dem Schwert wollten ihr beide ans Leben. Trotz ihrer jungen Jahre stand dies für Caroline fest.
Möglicherweise hatte sie sich auch in den letzten Sekunden geistig mehr entwickelt, als innerhalb der letzten zwei Jahre.
Sie sprang zurück, erreichte ihr Rad, stellte es hin und schwang sich auf den Sattel. Beim ersten Fahrversuch verfehlte sie die linke Pedale, schrammte ihren Fußknöchel, doch sie kümmerte sich darum nicht. Sie wollte nur noch weg.
Raus aus diesem Horror!
Das Mädchen fuhr schnell wie noch nie. Manchmal schaute sie auch auf das sich drehende Vorderrad, dann wieder nach vorn auf den schmalen Pfad, dessen Unebenheiten sie Stoß um Stoß im Sattel spürte.
Es war ein verzweifeltes Rennen gegen die Zeit.
Hinter ihr die Spinne, vor ihr der Wald, die Felder oder schmale Trampelpfade, die nur recht langsam befahren werden konnten.
Jetzt stand Caroline in den Pedalen. Die Angst trieb sie an, ebenso der Wunsch, nicht so zu werden wie ihre Mutter.
Diese Spinne mußte gefräßig sein…
Für einen Moment kam es ihr in den Sinn, einfach in den Wald hineinzufahren. An einigen Stellen wuchsen die Bäume sehr dicht zusammen, da kam das Monstrum kaum durch, aber auch als Radlerin würde sie es dort mehr als schwerhaben.
Deshalb blieb sie auf dem Feldweg, der sich bald gabelte, wobei es links zum Haus ging.
Kurz nur bremste das Mädchen ab, weil sie sich nicht entscheiden konnte, in welche Richtung sie fahren sollte. Caroline warf noch einen Blick über die Schulter zurück.
Die
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