0376 - Der Spiegel des Spuks
sich darüber, daß sie wie ausgeschnitten wirkte.
Da mußte jemand besonders geschickt gewesen sein und dieses Stück genau herausgefräst haben.
Linda hatte bereits den ersten Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als sie die Stimme der Tochter vernahm. »Wo willst du hin, Mummy?«
»Ich schaue mir den Spiegel mal an.«
»Wirklich?«
»Ja, weshalb nicht?«
»Das… das ist nicht gut, Mummy. Wer weiß, was da alles lauert. Ich … ich habe Angst.«
»Deshalb bleibst du auch zurück, Kind.«
»Und du, Mummy?«
»Ich gehe.« Linda hatte sich entschlossen und ihrer Stimme auch einen festen Klang gegeben, damit Caroline die Unsicherheit nicht bemerkte, die auch sie umfangen hielt.
Ihr war das alles unheimlich. Gern hätte sie jetzt ihren Mann dabeigehabt, aber der war unterwegs.
Die Knie zitterten ihr schon, als sie die Treppe hinter sich ließ. Auf der Stirn und der Oberlippe lagen dünne Schweißfilme, obwohl es überhaupt nicht warm war. Vielleicht tat sie auch das Falsche, aber ein Zurück gab es nicht mehr.
Und so schlich sie weiter. Sie hörte das Schaben ihrer Sohlen, auch mal ein feines Knirschen, wenn Steine zerbrachen, und sie entdeckte sogar dünne Spinnennetze auf dem Gestein. Sie hatten sich in den Stufenwinkeln regelrecht festgeklammert.
Je weiter Linda vorschritt, um so größer, wuchtiger und auch unheimlicher kam ihr das Denkmal vor. Dieses verdammte Loch wollte überhaupt nicht dazu passen, denn sie war inzwischen fest davon überzeugt, daß es sich nicht um einen Spiegel handelte. Der Winkel zum Kreis selbst war besser geworden. Sie hätte sich längst in der Fläche erkennen müssen, das war nicht der Fall.
Kein Schatten war zu sehen, keine Umrisse. Die runde Fläche blieb so glatt und glänzend, als hätte sie jemand poliert.
Noch zwei Stufen.
Diesmal steckte sie das Bein weiter vor und nahm die Hindernisse mit einem Schritt.
Jetzt stand sie dicht davor.
Und noch immer konnte sie sich nicht erkennen. Das grenzte schon an Zauberei oder Magie, obwohl sie an diese beiden Dinge überhaupt nicht glauben wollte.
»Mummy?«
Die Stimme ihrer Tochter klang ängstlich und hörte sich an wie ein leiser, im Wind verwehender Schrei.
Linda drehte sich noch einmal um. »Was hast du denn?«
»Komm wieder zurück!« Bittend streckte das Kind die Arme nach vorn. Ihr Gesicht war so blaß geworden. Wie Caroline vor der Treppe stand, wirkte sie irgendwie verloren.
»Gleich, mein Schatz. Ich schaue nur einmal nach.«
»Und dann?«
»Nichts. Ich werde die Fläche berühren. Dann kann ich feststellen, ob sie überhaupt existiert oder ob wir uns alles nur eingebildet haben.«
»Kommst du danach zurück?«
»Sofort.«
»Und sagen wir auch Daddy Bescheid?«
»Sicher.« Linda konnte die Angst des Mädchens verstehen. Auch ihr erging es nicht anders, nur gelang es ihr, als Erwachsene, die Furcht besser zu überspielen.
Um den Spiegel anfassen zu können, drehte sie sich um. Caroline schaute zu und sah nun auf den Rücken ihrer Mutter. Die drückte den rechten Arm nach vorn und näherte sich mit gespreizten Fingern der Spiegelfläche.
Im nächsten Augenblick bekam sie den gewünschten Kontakt. Sie fühlte etwas, einen leichten Widerstand, mehr nicht, und sie drückte ihre Hand noch weiter vor, weil sie die Masse, die ihr weich vorkam, nach innen schieben wollte.
Das gelang nicht. Statt dessen geschah etwas anderes, etwas Unerklärliches und Furchtbares.
Die Hand verschwand.
Ohne sich zu rühren, stand die Frau auf dem Fleck, suchte die rechte Hand und konnte sie doch nicht sehen, weil sie von der glatten, glänzenden Fläche aufgesaugt worden war.
Einfach weg.
Sie sah nur ihr Gelenk und den Beginn des Arms, der bis an die Schulter heranreichte.
Diese Tatsache hatte sie so fasziniert, daß sie nicht mehr an die eventuellen Folgen gedacht hatte.
Das änderte sich schlagartig. Die Angst kam. Sie schoß in ihr hoch. Es war ein brausendes Gefühl, dem sie nicht widerstehen konnte. Dieses Gefühl ließ ihr Herz schneller schlagen.
Zurück. Ich muß zurück. Die Hand muß raus! So dachte sie auf einmal voller Panik.
Nur klappte das nicht.
Sosehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr nicht mehr, die Hand aus dem Spiegel zu ziehen. Sie saß einfach fest.
Dabei spürte sie nicht einmal einen Druck, und sie konnte die Finger sogar bewegen.
Nur sehen konnte sie die Hand nicht…
»Mummy, komm doch zurück! Was ist denn?« Carolines Stimme klang gepreßt und zittrig. Das Mädchen spürte etwas von
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