038 - Der Geistervogel
wenn sie mitsingen konnte.
Nach einigen Minuten drehte sie ab, blieb sitzen und griff nach der Zeitung, die sie flüchtig durchblätterte. Sie las nicht gern, es war zu anstrengend, fand sie. Sie hätte gern ferngesehen, aber sie hatten keinen Fernsehapparat.
Schließlich stand sie auf und ging im Zimmer auf und ab.
Sie war ruhelos. Sie dachte an Pieter Brockenhausen und seine Frau, an ihre Arbeit, und dann fiel ihr Ingruns Gesicht ein, das sie im Sand gesehen hatte.
Um neun Uhr lag sie im Bett. Sie hatte die Augen offen und konnte nicht schlafen. Der Wind rüttelte am Haus, als wolle er eindringen. Es hörte sich wie klagende Stimmen an.
Unruhig wälzte sich das Mädchen hin und her und konnte keinen Schlaf finden.
Sie hörte, wie ihr Vater zurückkam, wie er ins Schlafzimmer ging. Dann war es wieder ruhig im Haus.
Der Wind wurde stärker, die Scheiben der Fenster klapperten. Sie stand auf, blieb vor dem Fenster stehen und zog den dicken Vorhang zur Seite.
Sie sah den zuckenden Schein des Leuchtturms, dessen Scheinwerfer sich durch die Nacht kämpften. Irgendwo schrien einige Vögel, in deren Gekreisch sich das Heulen einer Schiffssirene mischte.
Es wurde neblig. Die Wellen rollten heran, brachen sich und fielen zusammen. Diese Geräusche war sie gewöhnt, sie kannte sie seit ihrer Kindheit.
Silke zog den Vorhang zu und kroch zurück ins Bett, sie rollte sich zusammen, und irgendwann schlief sie ein.
Es war ein unruhiger Schlaf, immer wieder schreckte sie hoch.
Ein Gerippe griff nach ihr, aus den leeren Augenhöhlen krochen unzählige dicke Würmer, die immer größer wurden und nach ihr griffen. Schreiend fuhr sie hoch. Sie atmete schwer und wagte es nicht, eine Bewegung zu machen.
Sie schloß die Augen und zitterte.
Das Zimmer war voller Geräusche. Die Bodenbretter krachten, es war, als würde ein Unsichtbarer durchs Zimmer gehen. Dann knarrte das Bett, als hätte sich eine schwere Gestalt niedergesetzt.
Silke zog sich die Decke übers Gesicht. Ihr Herz schlug rascher. Ihr war eiskalt.
Endlich faßte sie Mut, und schob die Decke zur Seite und sah sich um. Niemand war im Zimmer. Sie atmete erleichtert auf und schloß die Augen.
Sie konnte nicht mehr einschlafen.
Aber nicht nur Silke fand in dieser Nacht keinen Schlaf.
Erna Nielsen hatte Alpträume seit Ingruns Tod. Es war immer der gleiche Traum.
Undurchdringliche Schwärze umgab sie. Langsam hellte sich die Dunkelheit etwas auf. Flügelgeflatter war zu hören.
Sie konnte die Umgebung erkennen, sie stand am Strand und starrte aufs Meer hinaus. Unzählige Vögel flogen auf sie zu und verschwanden wieder.
Und dann tauchte der Geistervogel auf.
Sie wollte davonlaufen, doch es gelang ihr nicht. Sie war wie gelähmt. Der riesige Vogel kam näher, sie wollte die Augen schließen, vergeblich, sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Der Geistervogel erreichte sie, schlug seine Krallen in ihre Schultern und hackte mit seinem gewaltigen Schnabel nach ihrem Gesicht. Er zerfetzte ihre Nase, riß die Wangen auf. Der Schnabel verwandelte sich, wurde zu einem riesigen Maul mit scharfen Zähnen, die ihre Kehle durchbissen.
Laut schreiend wachte sie danach immer auf.
Jede Nacht hatte sie diesen Alptraum. Sie bekam Angst vor dem Einschlafen.
Erna Nielsen saß im Bett, das kleine Nachtlämpchen brannte. Sie hörte dem Heulen des Windes zu, der ums Haus raste und an den geschlossenen Fensterläden zerrte.
Sie war müde und sehnte sich nach dem Schlaf, doch sie hatte Angst, die Augen zu schließen. Der Wind wurde stärker. Es war ihr, als wolle er die Fensterläden zertrümmern und ins Innere des Hauses rasen und sie mitzerren.
Dann hörte sie die Stimme. Sie war weich und einschmeichelnd. Sie lockte.
Langsam entspannte sie sich.
Sie löschte das Licht und schloß die Augen.
Die Stimme war eine zärtliche Liebkosung, die beinahe körperlich zu spüren war.
Endlich schlief sie ein.
Die Stimme, die aus dem Nichts zu kommenschien, flüsterte und lockte weiter.
Erna Nielsen bewegte sich unruhig.
Das Locken wurde immer stärker, sie atmete schwer.
Schließlich stand sie auf. Die Augen hatte sie noch immer geschlossen. Sie knipste das Licht nicht an, sie benötigte es nicht. Ihre Bewegungen waren steif und ungelenk. Sie trug ein altes Flanellnachthemd, das bis zum Boden reichte.
Erna Nielsen durchquerte das Schlafzimmer, öffnete die Tür und trat in die Diele.
Als sie die Haustür öffnete und der klare Wind ihr ins Gesicht
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