038 - Der Geistervogel
verlassen“, sagte die verschleierte Frau beschwörend.
Bevor Silke noch etwas sagen konnte, war die schwarze Gestalt verschwunden. Sie hatte sich einfach aufgelöst.
Silke drehte das Licht an und sprang aus dem Bett. Die Zimmertür war verschlossen, das Fenster ebenfalls.
Kopfschüttelnd setzte sie sich aufs Bett und blickte sich verwirrt um. „Habe ich geträumt?” fragte sie sich. „Nein, das ist nicht möglich.” dachte sie. Zu deutlich spürte sie noch die kühle Hand auf ihrem Mund. Das war kein Traum gewesen.
Eine Frau hatte sich bei ihr im Zimmer aufgehalten. Sie konnte sich aber nicht erklären, wie sie hereingekommen war, da doch die Tür und die Fenster geschlossen waren.
Augenblicklich dachte sie an ihre Schwester, die ebenfalls von einer schwarzgekleideten Frau gewarnt worden war, aber nicht auf diese Warnung gehört hatte, und ein paar Stunden später vom Tod ereilt wurde. Sie hatte in letzter Zeit oft über diese Warnung nachgedacht und sich gewundert, wieso sie damals nicht auch diese schwarzgekleidete Frau gesehen hatte, da doch Ingrun bei ihr im Zimmer geschlafen hatte.
Und jetzt war ihr diese schwarzgekleidete Frau selbst erschienen. Sie war überzeugt, daß sie das Haus nicht verlassen würde.
Silke hörte ihre Eltern aufstehen, doch sie blieb in ihrem Zimmer. Die Tür hatte sie abgesperrt.
Immer wieder fragte sie sich, ob sie geträumt hatte, oder ob die schwarzgekleidete Frau Realität gewesen war. Sie fand auf diese Frage keine Antwort.
Die Erscheinung war zu real gewesen, aber vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet. Je länger sie darüber nachdachte, um so größer wurden ihre Zweifel.
Trotz allem beschloß sie aber, nicht aus dem Haus zu gehen, sie würde sich krank stellen und ihren Eltern nicht die Wahrheit sagen.
„Silke!“, hörte sie ihren Vater rufen. „Wo steckst du?“ Sie gab keine Antwort. Ihr Vater versuchte die Tür zu öffnen, er riß an der Türklinke.
„Aufstehen“, sagte er und klopfte mit der Faust gegen die Türfüllung.
„Ichkomme“, rief Silke und kroch aus dem Bett. Sie sperrte die Tür auf, und ihr Vater trat ein.
„Was ist mit dir los, Silke?“ fragte er.
„Ich fühle mich nicht gut“, sagte Silke. „Mir ist schwindlig, ich habe Kopfschmerzen, und mir ist übel.“
Er musterte seine Tochter. „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.
Sie zuckte zusammen.
„Du mußt zum Arzt gehen, Silke“, sagte er. „Du isst kaum etwas und verfällst zusehends.“
„Es wird schon Vorbeigehen“, sagte sie. „Ich bleibe heute im Bett. Morgen ist alles sicher wieder gut.“
„Ich weiß nicht, was mit uns allen los ist.“ sagte der Vater nachdenklich. „Seitdem Ingrun tot ist, hat sich alles geändert. Wir haben Kopfschmerzen. Alpträume verfolgen uns. Es kommt mir vor, als wären wir verflucht. Und dieser Fluch scheint sich nur auf unsere Familie zu erstrecken.
Mutter sieht wie eine wandelnde Leiche aus, und du stehst ihr da nicht viel nach. Und mir selbst geht es auch nicht besser.“
„Aber das ist doch Unsinn, Vater“, stellte Silke mit wenig Überzeugung in der Stimme fest.
„Das ist kein Unsinn“, sagte er stur. „Bis zu Ingruns Tod waren wir immer gesund, wir hatten keine Sorgen, und wie ist es jetzt? Ich kann vor Schmerzen nicht arbeiten, und der Arzt kann sich nicht erklären, woher meine Kopfschmerzen kommen. Ich fahre heute mit Mutter zu einem Spezialisten nach Husum, da nehmen wir dich gleich mit.“
„Nein“, rief Silke entsetzt. „Ich gehe nicht mit. Ich fühle mich zu schwach. Ich bleibe im Bett.“
Er schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, du kommst mit.“
„Vater, ich kann nicht mitkommen“, sagte Silke zitternd. „Ich kann kaum gehen, alles dreht sich vor mir.“ Er kniff die Augen zusammen. „Heraus mit der Wahrheit“, sagte er scharf. „Weshalb willst du nicht mitkommen?“ Ihre Lippen zitterten. „Ich wollte es nicht sagen, Vater. Aber mir ist heute Nacht die schwarzgekleidete Frau erschienen, die auch Ingrun …“
Sie schluckte und preßte die Lippen zusammen.
„Weiter“, sagte er drängend. „Sprich weiter.“ Sie nickte. “Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob es nur ein Traum war, oder ob sie wirklich war. Aber das ist auch nicht so wichtig. Sie warnte mich. Sie sagte, daß ich heute das Haus nicht verlassen solle.“
„Ist das jetzt die Wahrheit, Silke?“
„Ja, Vater. Das ist die Wahrheit. Ich wollte es nicht sagen, da du dir ohnedies
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