038 - Der Geistervogel
Bewohner der kleinen Insel schwärmten aus. Sie gingen in Gruppen den Strand entlang und ließen keine Stelle aus.
Einer der Männer entdeckte ein blaues Flanellnachthemd, das völlig durchweicht war und am Strand lag.
Von Erna Nielsen fanden sie keine Spur. Sie blieb verschwunden.
Silke ging weiterhin zu den Brokkenhausens. Die Arbeit machte ihr Freude, und langsam schwand ihre Schüchternheit. Vor Frau Brockenhausen hatte sie noch immer ein wenig Angst, sie war ihr unheimlich, doch Herrn Brockenhausen mochte sie sehr. Er steckte ihr immer eine Kleinigkeit zu, einmal eine Tafel Schokolade, dann ein Tütchen Bonbons.
Silke fühlte sich nicht wohl, ihre Gedanken beschäftigten sich weiterhin viel mit ihrer toten Schwester, und die Alpträume verfolgten sie jede Nacht.
Sie aß kaum etwas, wurde noch einsilbiger und ängstlicher.
Innerhalb weniger Tage nahm sie fast fünfzehn Pfund ab. Ihr Gesicht war grau, die Augen lagen tief in den Höhlen und glänzten fiebrig. Sie schlief nur wenige Stunden täglich, meist lag sie schwer atmend im Bett und schwitzte.
Die Alpträume verfolgten sie aber auch tagsüber. Überall sah sie seltsame Schatten, die nach ihr greifen wollten.
Dem Vater fiel die Veränderung seiner Tochter auf, doch er machte sich wenig Gedanken darüber. Er hatte fast die ganze Zeit unerträgliche Kopfschmerzen, so wie seine Frau, die wie Silke immer mehr verfiel. Es war, als würde etwas Unsichtbares die Lebenskraft aus ihr saugen, sie auffressen.
Thorensen ging zum Arzt, der ihm aber auch nicht helfen konnte.
Die einzige, die Anteil an Silkes Veränderung nahm, war Frau Brockenhausen, die sich rührend um das junge Mädchen kümmerte. Sie bot Silke geheimnisvolle Tränkchen an, die sie aber immer weg schüttete. Sie traute dir Alten nicht, die ihr trotz ihrer Freundlichkeit noch immer unheimlichwar.
Zehn Tage nach dem Verschwinden von Erna Nielsen ging Silke den Strand entlang. Es war ein schöner Frühlingsabend, sie sah einigen Sandregenpfeifern zu und fühlte sich zum ersten mal seit langer Zeit wieder wohl. Es war dämmrig, die Luft warm. Sie schlüpfte aus den Schuhen, nahm sie in die rechte Hand und lief über den warmen Sand. Für wenige Minuten war sie glücklich. Sie vergaß die Alpträume, die sie verfolgten, und dachte nicht an ihre tote Schwester.
Sie bückte sich, hob einige Muscheln auf und warf sie in die sanft heranrollende Dünung.
Sie lachte und lief ausgelassen weiter.
Doch die fröhliche Stimmung hielt nicht lange an.
Im schwindenden Tageslicht verwischten sich alle kleinen Dünen, die vom Wind gebogenen Bäume sahen wie drohende Finger aus.
Silke blieb entsetzt stehen.
Auf einem Strandwall lag Erna Nielsen.
Sie lag auf der Seite, zusammengerollt, als würde sie schlafen. In ihrem Haar hing Seegras, und der Körper war mit Blasentang bedeckt.
Ein Lächeln lag um die Lippen der Toten, die Augen waren geschlossen. Sie sah aus, als würde sie jeden Augenblick aus dem Todesschlaf erwachen, aufstehen und davongehen.
Silke lief laut schreiend davon. Sie rannte, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Ihr Vater konnte zuerst ihrem Gestammel nichts entnehmen, sie vermochte vor Aufregung kaum zu sprechen. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich halbwegs beruhigt hatte und zusammenhängend reden konnte.
Sie weigerte sich, die Männer zur Stelle zu führen, wo sie Erna Nielsen gefunden hatte.
Einige Männer holten die Tote ins Dorf. Sie wies keine sichtbaren Verletzungen auf. Der Arzt stellte später fest, daß sie ertrunken war.
Die Atmosphäre auf der Insel war bedrückend. Die Menschen hatten Angst.
Silke zog sich in ihr Zimmer zurück.
Überraschenderweise schlief sie bald ein. Sie schlief tief und ruhig und hatte keine Alpträume. Es war weit nach Mitternacht, als sie aufwachte. Verschlafen drehte sie sich zur Seite, jemand hatte sie am Arm geschüttelt. Sie schlug die Augen auf und wollte schreien, doch eine kühle Hand preßte sich über ihren Mund.
„Schrei nicht. Silke“, sagte die verschleierte Gestalt, die auf dem Bett saß. Im Zimmer war es dunkel, Silke konnte nur undeutlich die Frau erkennen. Sie war schwarz gekleidet, und vor dem Gesicht hatte sie einen dichten Schleier. „Habe keine Angst.“
Silke zitterte vor Furcht.
„Ich bin gekommen, um dich zu warnen“, sagte die geheimnisvolle Frau. „Verlasse heute nicht das Haus. Bleib hier. Hast du mich verstanden, Silke?“
Das Mädchen nickte ängstlich.
„Du darfst das Haus nicht
Weitere Kostenlose Bücher