0384 - Skylla, die Menschenschlange
vereinigten.
Der Himmel hatte eine tiefblaue Farbe angenommen. Das Heer der Sterne war als ein funkelndes Meer zu erkennen und schien zum Greifen nahe zu sein.
Ein wahrlich traumhaftes Bild, für das die beiden Menschen keinen Blick hatten. Sie balancierten über den Steg, der die einzelnen Felsen miteinander verband und so hoch angelegt war, daß die Wellen ihn bei normalen Windverhältnissen nicht überspülten. Nur die Gischt fiel manchmal wie ein Schleier auf das Holz, aber die Planken waren trotzdem relativ trocken geblieben.
Der erste und für die beiden Wanderer letzte Felsen stach besonders hoch aus dem Meer. Der Steg verlief deshalb auch leicht schräg, und beide mußten sich vorsehen, um nicht auszurutschen.
Hier jagten die Wellen mit voller Kraft gegen. Gischt fuhr als feiner, nie abreißender Schleier in die Höhe und näßte auch die beiden Personen, deren Weg auf diesem kantigen Stück Stein beendet war. Er bot genügend Platz und war zudem auf seiner oberen Seite relativ flach, so daß Bronzo und die Marquesa einen einigermaßen sicheren Stand bekamen.
Sie schauten auf das Meer.
Es lag als weite, dunkle Fläche vor ihnen, als wollte es die Unendlichkeit mit seinen Wellen umarmen. Die Wogen zeigten ein nie abreißendes Spiel aus Berg und Tal. In der Ferne fuhr ein hellerleuchtetes Schiff vorbei. An Deck wurde getanzt und gefeiert.
Am Strand aber wartete das Grauen.
Die Marquesa Frascetti schob Bonzo zur Seite. Sie wollte vom Felsenrand aufs Meer schauen, hinausblicken in die gewaltige Ferne und dann ihren Ruf erschallen lassen, den der Wind wie einen unheimlich klingenden Schrei über die Wellen an sein Ziel tragen sollte.
Bonzo beugte sich ein wenig vor, so daß die Tote von seiner Schulter rutschte. Er ließ sie nicht auf das Gestein fallen, fing sie zuvor ab und richtete sich wieder auf.
Kaum stand er, hob die Marquesa beide Arme und legte ihre Hände rechts und links gegen den Mund. Bonzo wußte, was kam.
Er wunderte sich, woher diese alte Frau die Kraft für einen solchen Schrei nahm.
Sie tat es.
»Skylla…!« Ein Ruf lauter als der Donnerhall. Er übertönte selbst die Brandung. Er hallte über die Wellen hinaus auf das Meer.
»Skylla…! Dein letztes, dein wichtigstes Opfer!« Bei diesen Worten ging sie in die Knie und streckte die Arme aus. Sie flehte, beschwor, doch das Meer blieb ruhig.
Es wogte in seinem immerwährenden Rhythmus, während der Nachthimmel über die mit Gischt besetzten Kämme der Wellen strich und an den hochaufragenden Felsen entlangfuhr.
Skylla, diese geheimnisvolle Person rührte sich nicht. Sie, die in der Tiefe des Meeres wohnen mußte, blieb auch dort verborgen.
Die Marquesa schüttelte den Kopf. Sie konnte es nicht begreifen, daß sie von Skylla im Stich gelassen wurde, holte wiederum tief Luft und setzte zu einem erneuten Ruf an.
Diesmal noch lauter als die beiden vorherigen zusammen. Dabei stellte sie sich auf die Zehenspitzen, so daß es für einen Moment so aussah, als würde sie nach vorn fallen und im Wasser verschwinden. Sie fing sich wieder und trat von der Kante zurück.
Wenn Skylla nach diesem Ruf nicht antwortete, wollte sie es aufgeben, dann hatte es keinen Sinn, da sie in dieser Nacht nicht bereit war, das Opfer anzunehmen.
Noch warteten die beiden. Bonzo stand wie ein Denkmal hinter der Marquesa. Er überragte sie um Haupteslänge. Durch seine dunkle Brille mit den großen Gläsern war von seinem Gesicht so gut wie nichts mehr zu sehen. Der Kopf saß wie ein gerundeter Felsen auf dem Hals, und nur seine Mundwinkel zuckten hin und wieder.
Die Frau drehte den Kopf. Wind schob sich wie eine gierige Hand unter die linke Seite ihrer Stola und ließ sie flattern. »Sie hört heute nicht. Sie will einfach nicht hören, es ist schrecklich. Was habe ich ihr nur getan? Was?« schrie sie. In einem Anfall von Wut und Verzweiflung schlug sie mit beiden Fäusten gegen die breite Brust ihres stummen Dieners, der diesen Ausbruch über sich ergehen ließ und das schluchzende Geräusch hörte, mit dem die Marquesa einatmete.
Bonzo schaute über sie hinweg. Trotz der dunklen Brille konnte er erkennen, wie sich im Meer ein großer heller Strudel bildete.
Da tauchte etwas auf…
Bonzo tippte seiner Herrin auf die rechte Schulter. Sie verstand das Zeichen, löste sich von ihrem Diener und drehte sich gleichzeitig auch um. Ihr Blick fiel auf die wogenden Wellen, sie sah die runden, hellen Schaumstreifen und schrie: »Skylla. Sie hat uns gehört. Der
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