0384 - Skylla, die Menschenschlange
ein böses Lächeln, in ihren Augen funkelte es, als sie dicht vor der Tür stehenblieb und die in der oberen Hälfte angebrachte Klappe zurückschob.
Bisher hatte sie ein kleines Guckloch verdeckt gehabt. Mit einer Hand hielt die Marquesa die Klappe fest und brachte ein Auge bis dicht an das Loch. Normalerweise hätte sie nur einen kleinen Ausschnitt des anderen Zimmers erkennen können, durch eine raffinierte Optik aber war es ihr möglich, den Raum dahinter in einem größeren Blickwinkel zu überschauen.
Und sie sah das Mädchen!
Zwischen dem kostbaren Marmor, den goldenen Armaturen und den rustikal wirkenden Spiegeln hätte sich die Kleine bestimmt nicht wohl gefühlt. Sie war eine Rucksack-Touristin und von der Marquesaaufgegabelt worden.
Aus London war Mary Stallock gekommen, hatte Italien durchwandern wollen, trug natürlich wenig Geld bei sich und hatte die Einladung der Marquesa auf dieses Schloß nur allzu gern angenommen. Schon seit drei Tagen wohnte das Geschöpf mit den langen, rotblonden Haaren in den alten Räumen, und die Marquesa hatte Mary bisher in Ruhe gelassen. An diesem Abend würde sie zuschlagen.
Mary stand vor dem Spiegel. Sie war erst vor kurzem aus der Wanne gestiegen. Letzte Reste des schaumigen Badewassers verschwanden gerade im Abfluß, als Mary sich kämmte. Sie war nackt, und die Marquesa konnte ihren Rücken sehen. Nicht nur den Rücken, auch die vordere Körperseite, denn das Mädchen stand vor dem Spiegel. Mit dem Kamm fuhr sie durch das lange Haar. Die Bewegungen des jungen Gastes wirkten träge, zeigten eine gewisse Zufriedenheit. Die Kleider, die auf dem Hocker lagen, hatte die Marquesa ihr geschenkt.
An diesem Abend sollte sich der Gast schick machen. Sie wollten nicht in der Halle essen, sondern draußen, auf dem Dach eines Vorbaus, wo das Weinlaub wuchs, der Efeu seine Arme ausstreckte und der Blütenduft vom Tal her aufstieg.
Die Augen der alten Frau funkelten. Der nackte Mädchenkörper machte sie an. Nicht sexuell, nein, es war etwas anderes, das durch ihre Adern strömte.
Ein dämonisches Gefühl…
Sie holte tief Luft. Ihre Finger bewegten sich, die Hände bildeten Fäuste, ihre Zunge fuhr über die spröden Lippen, und sie mußte sich zunächst die Kehle freiräuspern, um überhaupt ein Wort sagen zu können.
»Bald, meine kleine Mary, bald…«
Mehr sagte sie nicht. Dafür handelte sie und zog unter ihrem Kleid etwas hervor, das nicht in die Hand einer Marquesa paßte. Es war ein Messer mit langer Klinge.
Die Frau starrte die Waffe an. Ein seltsames Glänzen lag plötzlich in ihren Augen, bevor sie den Kopf nach vorn drückte und mit den Lippen den kalten Stahl berührte.
Es war eine Geste, ein Kuß.
Der Todeskuß für Mary Stallock!
***
Im Juni sind die Tage besonders lang und hell. Da machte es Spaß, bis Mitternacht im Freien zu sitzen, ein Glas zu trinken, Musikklängen zu lauschen oder zu feiern.
Mary Stallock genoß die Stille, die trotzdem nicht monoton war, denn die Natur lebte. Das Mädchen hatte die Augen geschlossen, den Kopf zurückgelehnt, nahm den schweren Blütenduft auf und lauschte dem nie abreißenden Klang der Brandung.
Es war ein wunderbares Erlebnis. Sie fühlte sich wie im siebten Himmel, außerdem war sie satt, denn die Marquesa hatte ein vorzügliches Mahl auffahren lassen.
War es ein Traum oder Wirklichkeit?
Das wußte Mary manchmal selbst nicht, und sie hatte regelrecht Angst davor, die Augen zu öffnen, weil sie fürchtete, den Traum wieder zu zerstören.
Und dennoch riß sie sich zusammen, schaute hoch und stellte fest, daß der Platz ihr gegenüber leer war. Die Marquesa hatte den Tischverlassen, ohne daß es Mary bemerkt hatte.
Darüber erschrak sie, aber sie schob es ihrer Stimmung zu, die nicht besser hätte sein können.
Es war alles wie ein Traum. Die Einladung der Marquesa, die Tage auf dem Schloß, das Essen, die Umgebung, die Landschaft, das Meer, der Blütenduft und der herrliche Rote der in den Kristallgläsern funkelte, samtig schmeckte und dafür sorgte, daß der Genießer ein Gefühl oder Schwerelosigkeit bekam, das irgendwie in diese laue Sommernacht hineinpaßte.
Jetzt Flügel haben und einfach wegfliegen, dachte Mary. Über das Meer, hinein in den dunkler werdenden Himmel, der Sonne entgegen, die den Horizont mit einem Meer aus Flammen zu bedecken schien.
Das war schon etwas.
Aber es war ein Traum. Sie besaß keine Flügel, sie war Gast der Marquesa, und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, mußte
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