0389 - Der Ghoul und seine Geishas
berührt und sie aus dem Verkehr gezogen. Jetzt lag sie auf dem Boden des Verlieses. Erledigt, ohnmächtig, ohne Reaktion, so hätte es eigentlich sein müssen, bis auf eine Kleinigkeit, die allerdings sehr wichtig war.
Shao war ein normaler Mensch, eine völlig normale Frau, aber sie stammte von der Sonnengöttin Amaterasu ab.
Obwohl sie zur Rasse der Chinesen gehörte und Amaterasu zur japanischen Mythologie zählte, hatten sich diese Stammbäume innerhalb der vergangenen Jahrhunderte miteinander vermischt. Es war zu anderen Konstellationen gekommen, die Shao selbst nicht überblickte, aber die Tatsache ihrer Erbmutter war geblieben.
Und Amaterasu lebte.
Sie existierte, sie vegetierte im Dunklen Reich, in das sie ihr Bruder Susanoo verbannt hatte, aber sie war trotz ihrer Gefangenschaft nicht eigentlich völlig wehrlos.
Irgendwo in ihrem Innern besaß sie eine gewaltige Kraft, der auch Zeiten und Dimensionen nicht widerstehen konnten. Und diese Kraft besaß in der Gegenwart einen Anlaufpunkt.
Der hieß Shao!
Durch sie, die letzte in der langen Ahnenkette, gelang es der Sonnengöttin, in die Gegenwart hineinzutauchen und sich in Dingeeinzumischen, die dort abliefen.
Wieder einmal waren es Vorgänge, die Amaterasu auf keinen Fall billigen konnte. Sie mußte eingreifen, denn sie hatte in ihrer Verbannung gemerkt, daß sie etwas richtigstellen mußte.
Es gab einen Weg.
Den über Shao!
Aber die lag bewußtlos in der Kammer, ihre körperlichen Funktionen auf ein Minimum reduziert.
Amaterasu versuchte es trotzdem!
Plötzlich war der Kontakt da. Und auch Shao spürte ihn. Beinahe schmerzlich wurde er hergestellt, denn die Verbindung zwischen ihr und der Sonnengöttin stach wie ein dünner Laserstrahl in ihr Bewußtsein.
Das Gift wurde eliminiert.
Shao richtete sich auf.
Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, sich aufzusetzen. Im ersten Moment, schaute sie sich wirr um, bis sie die ferne Stimme vernahm, die leise, aber dennoch intensiv auf sie einredete.
»Ich, die Sonnengöttin Amaterasu, will nicht und kann es nicht zulassen, daß in meinem Namen Unrecht geschieht. Man hat mich in das Dunkle Reich verbannt, ich warte darauf, den Fächer zurückzubekommen, aber ich werde nicht untätig sein, denn du bist es, die meine Belange in der Gegenwart vertreten soll. Geh hin und zerstöre sie! Es darf nicht dazu kommen, daß Menschen in meinem Namen sterben. Zuviel ist schon geschehen. Lasse es nicht zum Letzten kommen. Du, Shao, bist meine Tochter!«
»Ja, ich weiß!«
Dieser schlicht dahingesprochene Satz beinhaltete alles. Shao hatte auf die Worte der Sonnengöttin gehört. Sie war innerlich bereit, ihr den Gefallen zu tun, denn auch sie wollte nicht, daß Menschen starben, deshalb stand sie auf.
Die Nachwirkungen des Giftes waren völlig verflogen. Kaum hatte Shao Halt gefunden, als sie das Kribbeln spürte, das durch ihren Körper rann. Es glich einem leichten Stromstoß, der sich verstärkte und zu einer Wärme wurde, die noch mehr Blitze abstrahlte, so daß Shao vom Kopf bis zu den Zehenspitzen davon erfüllt wurde.
Sie hatte sich aufgeteilt. Die Magie der Sonnengöttin Amaterasu war auch in ihr wirksam geworden. Man konnte Shao in diesen Augenblicken als einen Zwitter bezeichnen.
Zur Hälfte war sie sie selbst, zur anderen Hälfte Amaterasu. Und sie spürte die Kraft in sich, alles für sich und die Sonnengöttin entscheiden zu können.
Niemand sollte sie aufhalten.
Die Chinesin hatte sich auch körperlich verändert. Ihr Körper war zwar der gleiche geblieben, aber ein gewaltiger Strahlenkranz hatte ihn umgeben, eine gelb weiße Aura, wie sie aus dem Meer stieg, um in den endlosen Himmel zu wandern.
Shao/Amaterasu verließ ihr Gefängnis. Sie wußte sehr genau, wohin sie zu gehen hatte, wandte sich im Gang nach rechts, hörte das Schreien der Geishas und wußte, daß es höchste Zeit wurde.
Sie ging schneller.
Die Kraft einer uralten und leider gefangenen Göttin trieb sie an, und so betrat sie den Raum des Schreckens…
***
Der gewaltige, stinkende Schleimberg konnte mich ebensowenig verfehlen wie die mörderischen Zähne. Wo ich mich auch hingewandt hätte, ich wäre verloren gewesen.
Bis zu dem Augenblick, als der Ghoul plötzlich mitten in der Bewegung stoppte. Etwas hatte ihn irritiert, und auch ich spürte das Andere, das plötzlich vorhanden war.
Auf einmal veränderte sich die Lage. Der Ghoul über mir veränderte sich. Sein schleimiger Körper zog sich in die Länge, verbreiterte
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