039 - Der Griff aus dem Nichts
nicht dort gestanden, als er das erste Mal vorbeigefahren war.
Dorian verließ die Straße und ging über den Feldweg auf das Haus zu. Aus der Nähe betrachtet, wirkte alles noch viel verwahrloster. Der Lieferwagen hatte abgefahrene Reifen, und die Karosserie wies an allen Enden und Ecken Rostflecke auf. Die Seitenwände zeigten noch Reste einer Reklameaufschrift. Das Haus selbst sah so aus, als würde es jeden Augenblick zusammenfallen. Im Obergeschoß gab es keine einzige Fensterscheibe mehr, und der abblätternde Putz der Fassade war von undefinierbarer Farbe. Lediglich das Erdgeschoß schien noch bewohnbar.
Der Mann, der auf den Stufen der Veranda saß, fiel Dorian erst zuletzt auf. Sein Aussehen und die Farbe seiner Kleidung waren wie bei einem Chamäleon an den Hintergrund angepaßt.
„Tag, Mister!“
Dorian zuckte zusammen, als ihn der Mann ansprach. Er ging auf ihn zu und blieb zwei Schritte vor ihm stehen.
„Sie wohnen hier?“ fragte Dorian, weil ihm nichts Besseres einfiel.
„Man könnte so sagen“, meinte der Mann.
Der Alte fuhr fort: „Man könnte aber auch sagen, daß ich hier hause. Diese Bruchbude und der Wagen sind alles, was ich besitze. Ich habe beides vor meinem totalen Ruin für ein paar Dollar erstanden. Früher war ich in den Nob Hills zu Hause, aber das ist schon eine ganze Weile her. Jetzt ist mein Platz hier. Es ist auch besser so. Hier kann mich keiner stören, wenn ich die Flasche zur Brust nehme. Niemand ist da, der mit seinen gewaschenen Fingern auf mich zeigt und in die Welt hin ausposaunt: Seht her, der alte Ben Latimer läßt sich wieder einmal vollaufen! Es ist besser so. Verdammter Mist! Die Nob Hills haben mir das Genick gebrochen.“
Dorian wußte nicht, was er sagen sollte. Er fühlte sich müde und wie gerädert.
„Darf ich?“ fragte er und ließ sich neben dem Alten auf eine der oberen Verandastufen sinken.
„Sie sehen ganz schön mitgenommen aus, Mister, wenn mich mein müdes Auge nicht täuscht“, sagte der Alte. Er griff unter seinen verfilzten Pullover und brachte ein silbernes Schnapsfläschchen zum Vorschein, das er Dorian hinhielt. „Ein Schluck wird Ihnen gut tun, Mister.“
„Hunter – Dorian Hunter.“, sagte Dorian.
Er griff nach dem Fläschchen und trank einen großen Schluck. Es war ein undefinierbares Gebräu, aber es brannte angenehm in seiner Kehle und munterte ihn auf.
Dorian deutete in Richtung des Canyons und erzählte: “Ich hatte einen Autounfall. Mein Wagen kam von der Straße ab und stürzte in die Schlucht. Ich konnte im letzten Moment ´rausspringen. Mein Chauffeur hatte weniger Glück.“ „Nehmen Sie auf diesen Schreck hin noch einen Schluck, Mr. Hunter!“
Dorian hatte nichts dagegen. Er fühlte sich danach sogleich wohler.
„Sie haben wahrscheinlich kein Telefon, Mr. Latimer?“ fragte Dorian. „Ich müßte den Unfall melden und mich mit meinem Freund in Beverly Hills in Verbindung setzen, damit er einen Wagen schickt, mich abzuholen.“
„Kein Telefon. Nur Schnaps“, sagte Ben Latimer kopfschüttelnd. „Ich lege jeden Cent, den ich verdiene, in Schnaps an. Aber wenn Sie sich dafür nicht zu vornehm sind, dann kann ich Sie in meinem Wagen zu den Nob Hills fahren.“
„Das würden Sie wirklich tun?“
„Klar.“ Der Alte erhob sich. „Kommen Sie, Mr. Hunter, bevor der Alkohol bei mir zu wirken beginnt. Oder möchten sie sich erst einmal ausruhen?“
Dorian winkte ab und erhob sich.
Es kostete ihn Mühe, sich in das Führerhaus hinaufzuziehen, und er war froh, als er auf der zerschlissenen Sitzbank saß.
Ben Latimer reichte ihm wortlos die Schnapsflasche, und Dorian trank wieder. Dann hielt er das Silberfläschchen so, daß er die Aufschrift auf der ausgebauchten Außenseite lesen konnte. Zwischen kunstvollen Verzierungen war eine Widmung eingraviert.
Dorian las laut: „Für meinen Freund Ben – Dino.“
Der Alte fuhr den Wagen an und erklärte: „Das waren noch Zeiten, als Dean Martin mich einen Freund genannt hat. Guter, vergeßlicher Dino.“
„Sie waren früher in der Branche?“ fragte Dorian, während der klapprige Lieferwagen von der Privatstraße auf den Angeles Crest Highway einbog. Er fühlte sich durch den Alkohol wohlig müde und sprach nur, um nicht einzuschlafen.
„Ich war Maskenbildner. Einer der besten Maskenbildner, Mr. Hunter“, sagte Ben Latimer nicht ohne Stolz. „Aber dann verfiel ich dem Suff. Das andere können Sie sich denken. Jetzt lebe ich von Handlangerdiensten. Früher
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