039 - Der schwarze Abt
Prophezeiungen über eine schlaflose Nacht hatte Mary Wenner kaum ihren Kopf aufs Kissen gelegt, als ihr Atem auch schon regelmäßig und bald sogar recht vernehmlich wurde. Leslie schmunzelte. Dann versuchte auch sie einzuschlafen, was ihr nicht gelang. Unablässig wanderten ihre Gedanken hin und her, sie vernahm jeden Glockenschlag der Kirchenuhr und war dankbar, als es eins schlug. Nun ging es wenigstens dem Morgen entgegen.
Das alte Schloß war voll seltsamer Geräusche - Knistern, Knarren und Ächzen. Leslie richtete sich auf, um die Kerze wieder anzuzünden.
Ganz still lag sie auf dem Rücken. Zum x-tenmal blickte sie auf ihre Uhr. Fünf Minuten vor halb zwei.
Ein eigenartiges Klirren im Nebenzimmer -.
Und wieder Stille.
Doch jetzt das unverkennbare Geräusch von Kies, der gegen eine Fensterscheibe geworfen wird. War es Dick, der sie sprechen wollte?
Sie erhob sich vorsichtig, schlüpfte in ihren Morgenrock und öffnete im Nebenzimmer das Fenster.
Unten stand ein Mann, den sie nicht erkennen konnte.
»Sind Sie es, Leslie?«
Harry! Der Atem stockte ihr. Harry - lebendig!
»Sie befinden sich in furchtbarer Gefahr, Leslie! Ich hole eine Leiter, damit Sie herunterkommen können.«
Bevor sie antworten konnte, war er verschwunden, um gleich darauf mit einer Leiter wieder zu erscheinen, die er gegen die Mauer lehnte.
»Ich kann nicht kommen, Harry!« rief sie ganz leise. »Ich bin nicht angezogen. Soll ich nicht besser Dick rufen?«
»Nein, nein! Das würde nicht nur Ihre Rettung unmöglich machen, sondern auch noch sein Leben gefährden. Kleiden Sie sich schnell an!«
Was sollte sie tun? Ihr Instinkt riet ihr, zur Tür zu laufen und der Wache den Vorfall zu melden. Aber der Ernst und Schrecken in Harrys Stimme bewegen sie, seiner Aufforderung zu folgen. Sie zog sich rasch an, innerlich flehend, Mary Wenner möge aufwachen. Dann stieg sie aufs Fensterbrett und kletterte vorsichtig die Leiter hinab. »Was gibt's, Harry?« fragte sie, unten angekommen, ängstlich.
Er legte nur den Zeigefinger auf die Lippen und führte sie auf Umwegen, stets im Schatten der Bäume, an den Stallungen vorbei von den Gebäuden weg. Ein Hund schlug an.
»Harry, weiter komme ich nicht mit -.«
»Sie müssen, Sie müssen!« beschwor er sie. »Es geht um unser Leben, kommen Sie!«
»Und was wird aus Miss Wenner, die oben im Zimmer liegt und eine schreckliche Angst ausstehen wird, wenn sie erwacht?«
»Der Geist meiner Mutter wacht über ihr - sie starb in jenem Zimmer.«
Jetzt glänzte das Wasser des Ravensrill vor ihnen auf. Entschlossen blieb Leslie stehen.
»Ich gehe keinen Schritt weiter, Harry, und ich bin sicher, daß Sie sich in bezug auf die Gefahr, die Ihnen oder mir drohen soll, im Irrtum befinden. Wo waren Sie nur die ganze Zeit? Dick hat sich schreckliche Sorgen gemacht.«
»Dick?«
Er stieß ein wildes Lachen aus - das Lachen, das der Polizist gehört hatte.
Aus der Ferne kam ein Anruf.
»So, Dick hat sich schreckliche Sorgen gemacht -?« wiederholte Harry spöttisch. »Ha, das ist köstlich!«
Jetzt konnte sie ihn im Mondlicht auch deutlich sehen -ungekämmt, unrasiert, Hände und Gesicht verschmutzt, im Frack, aber ohne Kragen, bot er einen seltsamen Anblick. Furchtsam wollte sie vor ihm zurückweichen, doch blitzschnell packte er sie am Handgelenk.
»Wenn Sie schreien, werfe ich Sie in den Fluß und knie so lange auf Ihnen, bis Sie ertrunken sind«, flüsterte er ruhig, absolut sachlich.
Jetzt verstand sie, daß sie sich in Lebensgefahr befand. Fliehen? Auch wenn er sie nicht festhalten würde, wäre Flucht vor ihm, der in seinen Universitätsjahren bester Läufer gewesen war, aussichtslos. Und ihr fiel ein, daß dieser blasse, blutarme Mensch fabelhaft schoß. Ein Verdacht zuckte ihr durch den Kopf - jene Kugel, die, wie Dick behauptete, ihr gegolten hatte .
Sie fühlte, wie ihre Knie zitterten, es kostete sie maßlose Anstrengung, sich zusammenzureißen.
Er zerrte sie weiter. Düster tauchten die Ruinen vor ihnen auf - der Turm . Ah, nun wußte sie, wohin er sie brachte. In jenes grausige Gewölbe, das sie mit Dick besichtigt hatte. Und Dick wußte, daß sein Bruder sich dort versteckt hielt. Davon war sie felsenfest überzeugt - noch bevor sie den Frühstückskorb auf der obersten Stufe der Wendeltreppe sah.
Harry zündete eine Kerze an und wies auf den Korb. »Dick, dieser Teufel, brachte ihn her - alles vergiftet!«
»Vergiftet?«
Er faltete eine Serviette auseinander und zeigte ihr die
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