04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Wild erspäht.«
Fidelma beobachtete den jungen Mann, der seinen Umhang enger um sich wickelte und die Kapelle verließ. Sie folgte ihm bis zur Tür und ließ ihn nicht aus den Augen, während er sich durch den Innenhof und zwischen den Häusern immer weiter entfernte. Kurz darauf sah sie ihn davonreiten. Er galoppierte durch den Wald auf Adnárs Festung zu.
Für Fidelma lag der Zweck von Olcáns Besuch klar auf der Hand.
Sie eilte zurück ins Gästehaus und suchte Schwester Brónach.
»Es tut mir leid, daß ich verschlafen habe«, rief sie ihr zu. »Ich war gestern abend bei Adnár zu einem Festessen. Ist es möglich, noch etwas Eßbares zu bekommen? Das Morgenmahl im Refektorium habe ich leider verpaßt.«
Brónach streifte sie mit einem neugierigen Blick.
»Das muß aber ein ausgiebiges Festessen gewesen sein«, bemerkte sie verschmitzt und ging auf den Aufenthaltsraum des Gästehauses zu. »Ich habe bereits ein Gedeck für Euch vorbereitet, Schwester, als ich sah, daß Ihr heute morgen nicht beim Morgenmahl wart.«
Fidelma sank dankbar auf einen Stuhl. Vor ihr standen Schüsseln mit hartgekochten Gänseeiern, Sauerteigbrot und Honig sowie ein kleiner Krug mit Met. Sie langte kräftig zu, doch plötzlich begriff sie die Bedeutung von Brónachs Bemerkung in ihrer vollen Tragweite und sah die Nonne mit dem bekümmerten Gesicht fragend an.
Schwester Brónach lächelte beinahe, als sie die unausgesprochene Frage beantwortete.
»Ich arbeite schon viel zu lange in diesem Gästehaus, um nicht über das Kommen und Gehen der Gäste Bescheid zu wissen.«
»Ich verstehe«, murmelte Fidelma nachdenklich.
»Wie dem auch sei«, fuhr die Pförtnerin der Abtei fort, »es steht mir in meiner Stellung nicht zu, mich bei den Gästen nach ihrer Zeiteinteilung zu erkundigen, solange sie den normalen Ablauf in unserer Gemeinschaft nicht stören.«
»Schwester Brónach, Ihr wißt, warum ich hier bin. Es ist von größter Bedeutung, daß sich meine Abwesenheit aus der Abtei nicht weiter herumspricht. Gebt Ihr mir Euer Wort darauf?«
Die doirseór der Abtei verzog hochmütig das Gesicht.
»Das habe ich doch schon gesagt.«
Nach dem Morgenmahl machte sich Fidelma auf den Weg zur Bibliothek. Unterwegs traf sie Äbtissin Draigen, die ihr Mißfallen schon bei der Begrüßung deutlich zum Ausdruck brachte.
»Ihr scheint der Lösung des Rätsels seit Eurer Ankunft hier keinen Schritt näher gekommen zu sein«, bemerkte sie mit unverhohlenem Spott.
Fidelma ging nicht darauf ein.
»Ganz im Gegenteil, Mutter Oberin«, erwiderte sie strahlend, »ich habe große Fortschritte gemacht.«
»Fortschritte? Während Ihr mit Euren Untersuchungen beschäftigt wart, ist ein weiteres Mordopfer zu beklagen – Schwester Síomha. Sind das Eure Fortschritte? Soweit ich es beurteilen kann, ist das eher ein Ausdruck Eurer Inkompetenz.«
»Was wißt Ihr über die Geschichte dieser Abtei?« fragte Fidelma unvermittelt und ignorierte Draigens Angriff.
Die Äbtissin schien etwas aus der Fassung gebracht.
»Was hat die Geschichte der Abtei mit Eurer Untersuchung zu tun?«
»Kennt Ihr die Geschichte?« wiederholte Fidelma, ohne auf die Gegenfrage einzugehen.
»Schwester Comnat könnte Euch viel mehr darüber erzählen, wenn sie hier wäre«, antwortete die Äbtissin. »Die Abtei wurde vor einhundert Jahren gegründet – von der heiligen Neciir, der Reinen. «
»Das weiß ich bereits. Aber wieso hat sie sie gerade an dieser Stelle errichtet?«
Äbtissin Draigen machte eine ausladende Geste: »Ist dieser Platz nicht ebenso schön wie jeder andere, um ein Kloster zu gründen und dem Neuen Glauben zu dienen?«
»O doch. Aber es wird erzählt, daß die Brunnen hier früher von heidnischen Priestern benutzt wurden.«
»Necht hat sie gesegnet und gereinigt.«
»Also wurde an diesem Ort tatsächlich dem alten Glauben gehuldigt, bevor ihn die Christen übernahmen?«
»Ja. Die Geschichte besagt, daß Necht hierherkam und mit Dedelchú, dem heidnischen Häuptling, der hier in den Höhlen lebte, über die Lehre Christi diskutierte.«
»Dedelchú?«
»So ist es überliefert.«
»Und warum nannte Necht die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen?«
»Ihr solltet eigentlich wissen, daß der Ausdruck ›Der Lachs aus den Drei Quellen‹ eine Umschreibung für Christus ist.«
»Aber es gibt hier tatsächlich drei Quellen.«
»Richtig. Ein erfreulicher Zufall.«
»In heidnischer Zeit wurde behauptet, daß in einem der alten Brunnen tief unten ein Lachs
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