04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Schwester Síomha zu.
»Ihr habt meine Frage nicht beantwortet«, sagte sie ruhig.
»Schwester Brónach hat Euch zweifellos erzählt, was geschehen ist«, erwiderte Síomha stur.
In Fidelmas Miene glomm ein gefährliches Feuer.
»Und nun werdet Ihr es mir erzählen.«
Die Verwalterin unterdrückte einen Seufzer. Sie antwortete mit monotoner Stimme, wie ein Kind, das eine altbekannte Lektion herunterleiert.
»Es ist Schwester Brónachs Aufgabe, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Wenn Äbtissin Draigen vom Mittagsgebet aus der Kirche zurückkehrt, hat Schwester Brónach normalerweise in ihrem Gemach schon Wasser für sie bereitgestellt. An jenem Tag war jedoch weder von dem Wasser noch von Schwester Brónach etwas zu sehen. Die Äbtissin beauftragte mich als Verwalterin, Brónach suchen zu gehen …«
»Schwester Brónach bekleidet das Amt der Pförtnerin dieser Abtei, nicht wahr?« schaltete sich Fidelma ein, die die Antwort zwar genau kannte, jedoch nach einer Möglichkeit suchte, den eintönigen Vortrag zu unterbrechen.
Síomha wirkte einen Augenblick verwirrt und nickte dann.
»Sie ist seit vielen Jahren hier und ist älter als die meisten anderen Mitglieder der Gemeinschaft, abgesehen von unserer Bibliothekarin, die die Älteste ist. Sie bekleidet dieses Amt mehr dank ihres Alters als dank ihrer Fähigkeiten.«
»Ihr könnt sie nicht leiden, nicht wahr?« schlußfolgerte Fidelma.
»Leiden?« Das junge Mädchen schien ob der Frage überrascht. »Hat nicht Äsop geschrieben, daß es wenig Zuneigung gibt, wo keine Gleichheit herrscht? Zwischen Schwester Brónach und mir herrscht noch nicht einmal Ähnlichkeit.«
»Man muß nicht gleich seelenverwandt sein, um Zuneigung füreinander zu empfinden.«
»Mitleid ist keine Grundlage für Zuneigung«, erwiderte das Mädchen. »Und das ist das einzige Gefühl, das ich für Schwester Brónach aufbringen kann.«
Fidelma wurde klar, daß es Schwester Síomha trotz all ihrer Eitelkeit nicht an Intelligenz mangelte. Sie verfügte über eine bemerkenswerte Redegewandtheit, mit deren Hilfe sie ihre innersten Gedanken zu verbergen vermochte. Doch immerhin hatte Fidelma ihren Widerstand, der in ihrem monotonen Vortrag zum Ausdruck kam, gebrochen. Aus einer lebhafteren Stimme konnte man weitaus mehr Schlüsse ziehen. Sie beschloß, eine andere Richtung einzuschlagen.
»Ich habe den Eindruck gewonnen, daß Ihr in dieser Gemeinschaft mit fast niemandem freundschaftlichen Umgang pflegt. Ist das richtig?«
Sie hatte den Hinweis von Schwester Brónach aufgeschnappt, war jedoch überrascht, als Schwester Síomha das nicht abstritt.
»Als Verwalterin ist es nicht meine Aufgabe, es jedem rechtzumachen. Ich habe viele Entscheidungen zu treffen, und nicht alle gefallen meinen Schwestern im Glauben. Doch ich bin hier die rechtaire und bekleide eine verantwortungsvolle Position.«
»Aber Ihr trefft Eure Entscheidungen doch sicherlich mit Billigung der Äbtissin?«
»Ich genieße ihr uneingeschränktes Vertrauen.« In der Stimme des Mädchens lag ein prahlerischer Unterton.
»Ich verstehe. Nun, laßt uns auf die Entdeckung der Toten zurückkommen. Also, auf Verlangen der Mutter Oberin machtet Ihr Euch auf die Suche nach Schwester Brónach?«
»Sie war am Brunnen, hatte jedoch Schwierigkeiten, das Seil hochzuziehen. Ich dachte zuerst, sie wolle nur ihre Säumigkeit vertuschen.«
»Ach ja? Warum denn das?«
»Ich hatte nur ein, zwei Stunden zuvor dort Wasser geschöpft und dabei keinerlei Probleme gehabt.«
Fidelma beugte sich rasch nach vorn. »Erinnert Ihr Euch genau, um welche Zeit Ihr Wasser aus dem Brunnen holtet?«
Schwester Síomha legte den Kopf auf die Seite und schien über die Frage nachzudenken.
»Höchstens zwei Stunden vorher.«
»Und zu diesem Zeitpunkt ist Euch natürlich nichts Außergewöhnliches aufgefallen?«
»Wäre dem so gewesen«, erwiderte Síomha spöttisch, »hätte ich etwas gesagt.«
»Selbstverständlich hättet Ihr das. Aber laßt mich eines klarstellen – Euch ist nichts Ungewöhnliches am Brunnen aufgefallen? Kein Durcheinander, keine Blutflecken im Schnee?«
»Nichts.«
»War jemand bei Euch?«
»Wozu denn?«
»Egal. Ich wollte lediglich den Zeitraum eingrenzen, in dem die Tote in den Brunnen gehängt wurde. Es scheint, daß man den Leichnam erst kurz vor seiner Entdeckung dort versteckte. Das würde bedeuten, wer immer das tat, tat es am hellichten Tag, selbst auf die Gefahr hin, von jemandem aus der Abtei beobachtet zu werden.
Weitere Kostenlose Bücher