04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Findet Ihr das nicht merkwürdig?«
»Das kann ich nicht beurteilen.«
»Na schön. Fahrt fort.«
»Mühselig und langsam kurbelten wir das Seil nach oben. Dann fanden wir den Leichnam, der daran festgebunden war. Wir schnitten ihn ab und holten die Äbtissin.«
Die Einzelheiten stimmten mit dem Bericht von Schwester Brónach überein.
»Habt Ihr die Tote erkannt?«
»Nein. Wie sollte ich auch?« Ihre Stimme klang schneidend.
»Wird irgend jemand aus dieser Gemeinschaft vermißt?«
Die großen Bernsteinaugen von Schwester Síomha weiteten sich merklich, und einen Augenblick lang war Fidelma sicher, in ihren unergründlichen Tiefen Angst aufflackern zu sehen.
»Jemand aus Eurer Gemeinschaft ist verschwunden – um wen handelt es sich?« fragte sie schnell, in der Hoffnung, den kurzen Moment, in dem Síomha zumindest den Anflug eines Gefühls zeigte, ausnutzen zu können.
Doch Schwester Síomha blinzelte und hatte sich augenblicklich wieder unter Kontrolle.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Ihr redet«, erwiderte sie. »Aus unserer Gemeinschaft ist niemand verschwunden. « Fidelma entging die kaum merkliche Veränderung der Betonung nicht. »Falls Ihr damit andeuten wollt, daß es sich bei der Toten um eine unserer Schwestern handelt, dann irrt Ihr Euch.«
»Denkt noch einmal nach und vergeßt nicht, welche Strafen Euch für das Verschweigen der Wahrheit vor einem Beamten der Gerichtsbarkeit drohen.«
Schwester Síomha sprang mit wütender Miene auf.
»Ich habe es nicht nötig zu lügen. Was werft Ihr mir eigentlich vor?«
»Ich werfe Euch gar nichts vor … bis jetzt«, erwiderte Fidelma, unbeeindruckt von dieser Zurschaustellung unverhohlener Mißachtung. »Ihr behauptet also, daß niemand aus der Gemeinschaft verschwunden ist? Ihr könnt über all Eure Schwestern Rechenschaft ablegen?«
»Ja.«
Fidelma war das kurze Zögern vor Schwester Síomhas Antwort nicht entgangen, doch erschien es ihr sinnlos, die Verwalterin unter Druck zu setzen. Sie fuhr fort: »Als Ihr die Äbtissin holtet, deutete sie da in irgendeiner Weise an, daß sie den Leichnam erkannte?«
Die Verwalterin starrte sie an, als versuche sie, die Motive für diese Frage zu ergründen.
»Wie sollte die Äbtissin die Tote denn erkennen? Sie hatte doch keinen Kopf.«
»Also war Äbtissin Draigen beim Anblick des Leichnams überrascht und entsetzt?«
»Genau wie wir alle, ja.«
»Und Ihr habt keine Ahnung, wer die Tote war?«
»Bei meiner Seele!« stieß das Mädchen hervor. »Das habe ich doch schon gesagt. Ich finde Eure Fragerei äußerst widerwärtig und werde Äbtissin Draigen davon berichten.«
Fidelma lächelte verkniffen.
»Ach, genau. Äbtissin Draigen. Wie ist eigentlich Euer Verhältnis zu ihr?«
Der funkelnde Blick der Verwalterin wurde unsicher.
»Ich verstehe nicht ganz, was Ihr meint.« Ihre Stimme klang eisig und bekam einen drohenden Unterton.
»Ich dachte, meine Worte waren deutlich genug.«
»Ich genieße das Vertrauen der Äbtissin.«
»Seit wann seid Ihr hier rechtaire ?«
»Genau seit einem Jahr.«
»Wann seid Ihr in die Gemeinschaft eingetreten?«
»Vor zwei Jahren.«
»Ging das nicht alles ein bißchen schnell: kaum gehörtet Ihr der Gemeinschaft an, wurde Euch auch schon das zweitwichtigste Amt in der Abtei übertragen?«
»Äbtissin Draigen vertraut mir eben.«
»Danach habe ich nicht gefragt.«
»Ich erledige meine Arbeit einwandfrei. Wenn jemand für eine Aufgabe geeignet ist, dann spielt das Alter doch wohl keine Rolle, oder?«
»Dennoch, nach normalen Maßstäben ist eine bemerkenswert kurze Zeit vergangen zwischen dem Zeitpunkt Eures Eintritts in das Kloster und dem Zeitpunkt Eurer Ernennung für Euer Amt.«
»Ich habe keinen Vergleich, um das zu beurteilen.«
»Wart Ihr in einer anderen religiösen Gemeinschaft, bevor Ihr hierherkamt?«
Schwester Síomha schüttelte den Kopf.
»In welchem Alter seid Ihr also hier eingetreten?«
»Mit achtzehn Jahren.«
»Dann seid Ihr erst zwanzig?«
»In einem Monat werde ich einundzwanzig«, antwortete das Mädchen abwehrend.
»Dann muß Euch Äbtissin Draigen tatsächlich uneingeschränkt vertrauen. Von Eurer Eignung für Eure Aufgaben einmal abgesehen – Ihr seid ausgesprochen jung für das Amt einer rechtaire «, sagte Fidelma ernst, und bevor Schwester Síomha etwas entgegnen konnte, fügte sie hinzu: »Und Ihr wiederum vertraut Äbtissin Draigen selbstverständlich auch?«
Das Mädchen runzelte die Stirn und konnte der Richtung von Fidelmas
Weitere Kostenlose Bücher