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04 - Die Tote im Klosterbrunnen

04 - Die Tote im Klosterbrunnen

Titel: 04 - Die Tote im Klosterbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
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sie um ihr Erscheinen gebeten hatte – noch immer nicht im Gästehaus aufgetaucht war, beschloß Fidelma, sich auf die Suche nach der Verwalterin zu begeben. Sie überprüfte die Uhrzeit an der prunkvollen bronzenen Sonnenuhr, die in der Mitte des Innenhofes stand und deren lateinische Inschrift ostentativ verkündete: › Horas non numero nisi serenas – Ich zähle nicht die Stunden, es sei denn, sie sind heiter.‹ Es war ein kalter Tag, aber die nächtlichen Schneewolken waren weitergezogen, und der Himmel war strahlend und klar.
    Die hübsche junge Schwester Lerben, die auf Fidelma wirkte wie die persönliche Dienerin der Äbtissin, schickte Fidelma zum Turm hinter der hölzernen Kirche und erklärte ihr, sie werde Schwester Síomha im oberen Stockwerk finden, wo sie die Wasseruhr beaufsichtige. Der Turm war ein großes Gebäude direkt neben dem gemauerten Vorratsraum, den Fidelma am vergangenen Abend betreten hatte. Sein Fundament bestand aus Steinen, die oberen Stockwerke waren aus Holz gebaut, und er ragte etwa zwölf Meter in die Höhe. Oben auf dem flachen Dach war die Hauptglocke zu sehen, die die Gemeinschaft zu den Gebeten rief.
    Während Fidelma vom Erdgeschoß aus die hölzernen Stufen hinaufstieg, spürte sie zunehmenden Ärger über die Arroganz der Verwalterin, die ihre Vorladung einfach ignoriert hatte. Wenn ein dálaigh das Erscheinen eines Zeugen verlangte, dann hatte der Zeuge dem nachzukommen. Andernfalls drohte ihm eine Geldbuße. Fidelma beschloß, dafür zu sorgen, daß die eingebildete Schwester Síomha diese Lektion lernte.
    Der quadratische Turm war so konstruiert, daß die Räume übereinanderlagen und mit einer Treppe verbunden waren; die Fußböden bestanden aus Birkendielen, die auf starken Eichenbalken ruhten. Jeder Raum hatte vier Fenster, die einen Ausblick nach allen vier Himmelsrichtungen boten. Dennoch wirkten die Räume nicht lichtdurchflutet, sondern lagen eher im Zwielicht. Der Turm, zumindest die beiden unteren Stockwerke, beherbergte das Tech-screptra , das ›Haus der Handschriften‹, die Bibliothek der Gemeinschaft. Holzgestelle mit Reihen von Haken füllten den Raum, und an jedem Haken hing eine tiag liubhar oder Büchertasche.
    Fidelma war erstaunt über die stattliche Sammlung, die die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen in ihrem Besitz hatte. Es mußten mindestens fünfzig oder mehr Büchertaschen sein, die in den beiden ersten Stockwerken an den Haken hingen. Einige davon nahm sie sorgfältig in Augenschein und fand zu ihrer weiteren Verblüffung unter anderem Kopien der Werke des berühmten irischen Gelehrten Longarad von Sliabh Marga. Eine andere Büchertasche enthielt die Werke von Dallan Forgaill von Connacht, der zu seiner Zeit den Vorsitz bei den Großen Bardenversammlungen geführt hatte und vor siebzig Jahren ermordet worden war. Der Verdacht fiel damals auf Guaire den Gastfreundlichen, den König von Connacht, doch man konnte ihm nie etwas nachweisen. Das war eines der großen Geheimnisse, über die Fidelma häufig nachdachte, und sie wünschte, sie hätte zu jener Zeit gelebt, um das Rätsel um Dalláns Tod lösen zu können.
    Sie schaute in die nächste Büchertasche und fand eine Kopie der Teagasc Rí , der Anweisungen des Königs. Der Autor dieses Handbuches war Oberkönig Cormac Mac Art, der im Jahre 254 A.D. in Tara gestorben war. Er hatte sich zwar nicht zum Christentum bekehren lassen, wurde aber dennoch als einer der weisesten und mildtätigsten Herrscher Irlands gerühmt. In seinem Werk waren Anweisungen zu Lebensführung, Gesundheit, Ehe und Benehmen zusammengestellt. Fidelma lächelte, als sie sich an ihren ersten Unterrichtstag bei ihrem Mentor, Brehon Morann von Tara, erinnerte. Sie war sehr schüchtern gewesen und hatte kaum zu reden gewagt, doch Morann hatte ihr einen Satz aus Cormacs Buch vorgelesen: »Bist Du zu redselig, wird niemand Dich achten; bist Du zu schweigsam, wird niemand Dich beachten.«
    Sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie die Pergamentseiten des Buches durchblätterte. Viele waren mit rötlichem Schmutz befleckt. Wie konnte ein guter Bibliothekar zulassen, daß ein solches Kleinod derart verwahrloste? Sie nahm sich vor, mit der Bibliothekarin über den Zustand des Buches zu sprechen, und steckte es in seine Tasche zurück, während sie sich Vorwürfe machte, weil sie sich von dem Zweck ihres Besuches im Turm hatte ablenken lassen.
    Widerstrebend verließ sie die Bibliothek und stieg in den dritten Stock hinauf.

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