04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Dort befand sich das Skriptorium, wo die Schreiberinnen und Kopistinnen arbeiteten. Auf den Schreibtischen lagen Stapel von Gänse-, Schwanen- und Krähenfedern, die darauf warteten, angespitzt zu werden. Schreibrahmen standen bereit, bespannt mit Pergament oder den Häuten von Schafen, Ziegen oder Kälbern, sowie Gefäße mit tief schwarzer Tinte, die aus Kohlenstoff hergestellt und äußerst haltbar war.
Jetzt war das Skriptorium leer. Vermutlich nahmen die Schreiberinnen gerade ihre Mahlzeit ein, die dem mittäglichen Ángelus folgte. Durch das Süd- und das Westfenster warf die fahle Sonne einen scharf umrissenen Strahl durchsichtigen Lichtes in den Raum, der ihn erhellte und ihn trotz der eisigen Luft warm und anheimelnd wirken ließ. Was für ein geräumiger und sicherer Ort zum Arbeiten, dachte Fidelma. Der Ausblick war atemberaubend. Durch die Fenster sah sie im Süden und Westen das schimmernde Meer und die Landzungen, die die Meerenge umschlossen. Das gallische Schiff lag noch immer vor Anker. Die Segel waren eingerollt, doch von Odar und seinen Männern war nichts zu sehen.
Vermutlich ruhten sie sich aus oder nahmen ihr Mittagsmahl ein. Das Wasser rund um das Schiff glitzerte und spiegelte das zarte Blau des klaren Himmels wider. Genau im Westen konnte sie Adnárs Festung erkennen, und wenn sie sich nach Norden und Osten wandte, lagen vor ihr die Wälder und die hohen, schneebedeckten Gipfel der Berge, die sich auf der Halbinsel dahinzogen wie das gezackte Rückgrat einer Echse.
Sie trat zum Nordfenster und spähte hinaus. Unter ihr gruppierten sich die Abteigebäude um die große Lichtung auf der tiefliegenden Landspitze. Jetzt wirkte alles verlassen und bestätigte Fidelmas Vermutung, daß die Schwestern gerade ihre Mittagsmahlzeit im Refektorium einnahmen. Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen war zweifellos wunderschön gelegen. Das hohe Kreuz stand prachtvoll und weiß im Sonnenlicht. Direkt unter ihr befand sich der Innenhof mit der Sonnenuhr in der Mitte. Zahlreiche einzeln stehende Gebäude begrenzten den Hof an den Seiten, und die große Holzkirche, die duirthech , bildete den südlichen Abschluß des gepflasterten Platzes. Hinter den Hauptgebäuden, die den Innenhof umschlossen, standen noch weitere Häuser aus Holz sowie einige aus Stein, in denen die Nonnen wohnten und arbeiteten.
Fidelma wollte sich gerade umdrehen, als ihr eine kaum merkliche Bewegung ins Auge fiel. Auf einem Pfad, der sich etwa eine halbe Meile von der Abtei entfernt aus den Bergen hinunterschlängelte und am Waldrand zu verschwinden schien und der wahrscheinlich zu Adnárs Festung führte, erspähte sie ein Dutzend Reiter, die ihre Pferde behutsam lenkten. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Den Reitern folgten Männer zu Fuß. Fidelma hatte Mitleid mit ihnen. Auf dem abschüssigen, felsigen Boden konnten sie nur unter großer Anstrengung mit den Berittenen Schritt halten.
Sie vermochte wenig zu erkennen, nur, daß die vordersten Reiter prunkvoll ausstaffiert waren. Die Sonne beschien ihre farbenprächtige Kleidung und funkelte und glühte auf ihren polierten Schilden. An der Spitze des Zuges trug einer der Reiter einen langen Stab mit einem Banner. Die wallende Seide flatterte so heftig im Wind, daß sie das Wappen darauf aus der Entfernung nicht ausmachen konnte. Auf den Schultern eines Reiters entdeckte sie etwas Sonderbares. Aus der Entfernung sah es auf den ersten Blick so aus, als hätte der Mann zwei Köpfe. Nein! Der seltsame Umriß bewegte sich, und Fidelma begriff, daß auf der Schulter des Reiters ein großer Falke saß. Reiter und Fußvolk verschwanden schließlich hinter dem Waldrand und damit aus ihrem Blickfeld.
Fidelma blieb noch ein Weilchen stehen und wartete gespannt, ob sie sie noch einmal zu sehen bekäme, doch der dichte Eichenwald rundherum verbarg sie nun, nachdem sie den Abhang hinter sich gelassen hatten, vor ihrem Blick. Sie fragte sich, wer die Männer wohl waren. Doch es hatte keinen Sinn, Zeit mit Fragen zu verschwenden, wenn sie keine Möglichkeit hatte, die Antwort zu finden.
Fidelma wandte sich vom Fenster ab und ging hinüber zur Treppe, die in das vierte und höchstgelegene Stockwerk des Turms führte.
Sie betrat den oberen Raum durch die Klappe im Boden, ohne vorher anzuklopfen oder ihr Kommen anderweitig anzukündigen.
Schwester Síomha war über ein großes Bronzebecken gebeugt, das dampfend auf einer steinernen Feuerstelle stand. Die rechtaire der
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