04 - Die Tote im Klosterbrunnen
unternehmen, ihre Anhängerinnen um sich zu scharen und Berrach zu ergreifen? Aus dem Korridor hörte sie Gemurmel und Fußgetrappel, dann Stille. Fidelma öffnete die Augen.
Schwester Berrach saß auf dem Bett und zitterte am ganzen Leibe.
Fidelma warf einen raschen Blick in den Korridor. Er war leer. Sie stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.
»Alles in Ordnung«, sagte sie und setzte sich neben das Mädchen aufs Bett. »Sie haben sich zerstreut.«
»Wie können sie nur so böse sein?« Berrach schauderte.
»Sie wollten mich hier rausholen und mich töten.«
Fidelma legte tröstend eine Hand auf ihren Arm.
»Sie sind nicht wirklich böse. Sie haben einfach Angst. Von allen menschlichen Gefühlen trübt Furcht die Urteilskraft am meisten, besonders, wenn man so jung und unerfahren ist wie Lerben.«
Das Mädchen schwieg eine Weile.
»Schwester Lerben hat mich nie gemocht. Jetzt muß ich fort von hier. Habt Ihr gehört, was sie gesagt hat? Äbtissin Draigen hat sie zur Verwalterin der Abtei ernannt, zur Nachfolgerin Schwester Síomhas.«
»Eine unkluge, ja, geradezu unüberlegte Wahl«, räumte Fidelma ein. »Ich werde mit der Äbtissin darüber sprechen. Lerben ist zu jung, um rechtaire zu sein. Habt ein wenig Geduld, Berrach. Die Schwestern werden zur Besinnung kommen, und dann werden sie alles bereuen.«
»Wenn sie mich so sehr fürchten, dann wird diese Furcht nicht nachlassen, sondern sich in Haß verwandeln. Ich werde hier niemals sicher sein.«
»Gebt ihnen eine Chance. Gestattet mir zumindest, mit Äbtissin Draigen zu sprechen.«
Schwester Berrach schwieg, und Fidelma beschloß, dies als Zeichen der Zustimmung zu werten.
Sie erhob sich und warf von der Tür aus noch rasch einen Blick zurück.
»Kann ich Euch kurz allein lassen?« fragte sie.
Schwester Berrach schaute finster drein.
»Deo favente« , antwortete sie. »So Gott will.«
Fidelma verließ die Zelle und machte sich auf den Weg zu Draigens Gemächern. Nun, da sie über das Verhalten der Äbtissin nachdachte, schoß ihr vor Zorn das Blut in den Kopf. Wie konnte Draigen der blutjungen Lerben nur soviel Macht übertragen? Wie konnte sie die Novizin dazu veranlassen, die Schwestern zu einem Mord anzustiften, dem schlimmsten aller Verbrechen? Wie stark mußte der Haß sein, den die Äbtissin gegen Berrach hegte? Worauf auch immer Fidelma bei ihren Nachforschungen stieß, alles an diesem Ort lag unter einem Mantel von Haß. Sie war wütend, doch dann fiel ihr ein, wie leicht es war, seiner Wut freien Lauf zu lassen. Hatte nicht Publilius Syrus gefordert, man solle den Zorn stets meiden? Zorn macht die Menschen blind und dumm. Sie erinnerte sich an die Worte ihres Mentors, des Brehon Morann von Tara: Wer die glühende Hitze des Zornes erlebt, wird danach die eisige Kälte der Reue empfinden. Es ist stets besser, Ruhe zu bewahren.
Kaum hatte sie diesen Entschluß gefaßt, da stand sie auch schon vor der Tür zu Äbtissin Draigens Gemächern.
Sie stieß sie auf und marschierte hinein, ohne anzuklopfen.
Die Äbtissin saß kerzengerade an ihrem Tisch, die Lippen entschlossen zusammengepreßt. Neben dem Feuer stand Schwester Lerben. Offensichtlich hatte sie sich Schwester Brónachs Begleitung entzogen. Sie blickte voller Abneigung auf, als Fidelma eintrat und den Raum mit festen Schritten durchmaß.
»Ich möchte Euch allein sprechen, Mutter Oberin.«
»Ich bin …«, begann Schwester Lerben.
»Ihr seid entlassen«, fauchte Schwester Fidelma.
Äbtissin Draigen warf dem Mädchen einen nervösen Blick zu und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sie allein zu lassen. Die junge Frau verkniff sich eine Erwiderung, was ihr sichtlich schwerfiel. Hocherhobenen Hauptes verließ sie den Raum.
Bevor Fidelma sprechen konnte, verzog sich Äbtissin Draigens Gesicht vor Zorn.
»Dies ist bereits das zweite Mal, daß Ihr Euch in Anweisungen einer von mir autorisierten Person eingemischt habt. Ich habe Schwester Lerben an Stelle von Schwester Síomha zur stellvertretenden rechtaire ernannt.«
Fidelma lächelte matt, trotz ihrer Wut.
»Angst führt unwürdige Seelen in die Irre«, erwiderte sie, während sie Platz nahm.
Äbtissin Draigen verzog erneut das Gesicht.
»Dies ist auch das zweite Mal, daß Ihr Eure lateinischen Philosophen zitiert.«
»Ihr habt mir nicht einmal Zeit gelassen, Euch von meiner Befragung Schwester Berrachs zu berichten, bevor Ihr Lerben die Erlaubnis erteiltet, die Ängste der Schwestern in Eurer Gemeinschaft zu
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