04 - Die Tote im Klosterbrunnen
weiß nicht, wie lange das dauerte. Ich wollte den Gong schlagen, um die anderen zu alarmieren, und zündete gerade die Laternen an, da hörte ich wieder ein Geräusch.«
»Was für ein Geräusch?«
»Ich hörte das Schlagen einer Tür. Ich hörte Schritte, die die Treppe heraufkamen. Ich hörte, wie sie sich näherten. Mein erster Gedanke, Schwester, war, daß der Mörder zurückkehrte – zurückkehrte, um sicherzustellen, daß ich nicht mehr reden würde.«
Sie hielt inne und schien einen Augenblick nach Luft zu ringen, doch dann fing sie sich wieder.
»Diesmal ließ mich die Angst nicht, wie beim ersten Mal, wie angewurzelt stehenbleiben, sondern verlieh mir ungeahnte Kräfte. Ich drehte mich um und arbeitete mich, so schnell ich konnte, mit Händen und Füßen die Treppe hinunter. Ich erinnere mich, daß ich eine Gestalt heraufkommen sah und dachte, der Vermummte kehrt zurück. Das ist die Wahrheit! Ich nahm alle Kraft zusammen, um die Gestalt brutal niederzustoßen, damit ich Zeit gewann, um zu entkommen …«
»Erinnert Ihr Euch, ob die Gestalt ein Licht in der Hand hatte?«
Berrach runzelte die Stirn.
»Ein Licht?«
»Eine Lampe oder eine Kerze?«
Das Mädchen dachte eine Weile nach.
»Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht eine Kerze. Ist das wichtig? Ich hörte sie aufschreien. Erst als ich den Innenhof schon überquert hatte, wurde mir bewußt, daß es die Äbtissin gewesen war.«
»Warum seid Ihr dann nicht zurückgekehrt?«
»Ich war ganz durcheinander. Immerhin hatte ich die vermummte Gestalt in dem Raum mit der Wasseruhr gesehen. Vielleicht war die Äbtissin sogar die Mörderin. Woher sollte ich das wissen?«
Fidelma antwortete nicht.
»Ich lief hierher, so schnell ich konnte. Ich hatte gerade meine Zelle erreicht, als Brónach hereinkam und mich fragte, warum ich so aufgeregt sei. Ich erzählte es ihr, und sie wollte hingehen und nachsehen, was passiert war. Ich hatte Angst, der Mörder könnte mir gefolgt sein.«
»Aber das hatte der Mörder nicht getan. Ihr wart doch bestimmt um Brónachs Sicherheit besorgt, als sie allein zum Turm hinüberging?«
»Ich war ganz durcheinander«, wiederholte Berrach.
»Warum habt Ihr Euch verbarrikadiert?«
»Ich hörte den Lärm, als die Schwestern geweckt wurden. Erst war Licht im Turm und dann in den Schlafräumen. Ich wollte gerade hinausgehen, doch eine der Schwestern, es war Lerben, rief: ›Schwester Síomha ist von Berrach ermordet worden!‹ Da wußte ich, daß ich verloren war. Welche Chance hat denn jemand wie ich, Gerechtigkeit zu finden? Ich soll für etwas bestraft werden, was ich nicht getan habe.«
Fidelma betrachtete sie nachdenklich.
»Noch eine Frage, Berrach. Ist Euch irgend etwas Besonderes an Schwester Síomhas Körper aufgefallen? Abgesehen von der Enthauptung, meine ich?«
Berrach riß sich einen Augenblick von ihren angstvollen Gedanken los und starrte Fidelma fragend an.
»Etwas Besonderes?«
»Vielleicht eine Ähnlichkeit in der Art und Weise, wie die namenlose Tote im Brunnen zurückgelassen wurde«, legte ihr Fidelma nahe.
Schwester Berrach dachte einen Augenblick gründlich nach.
»Ich glaube nicht.«
»Ich meine, habt Ihr bemerkt, daß etwas an ihren linken Arm gebunden war?«
Die Bestürzung des Mädchens wirkte echt, als es den Kopf schüttelte.
»Kennt Ihr die uralten, heidnischen Bräuche?«
»Wer kennt sie nicht?« erwiderte Berrach. »Ihr solltet wissen, daß die Menschen in diesen abgelegenen Gegenden, fernab der großen Kathedralen und Städte, nach wie vor sehr naturverbunden leben und den ausgetretenen Pfaden weiterhin folgen. Bringt hier einem Christen einen Kratzer bei, und Ihr werdet sehen, daß das Blut in seinen Adern heidnisch ist.«
Fidelma wollte gerade etwas darauf erwidern, als sie von draußen Stimmen hörte, die immer lauter wurden, bis sie als Sprechgesang zu ihnen in die Kammer drangen. Erstaunt hörte sie, daß die Stimmen einen Namen riefen: »Berrach! Berrach! Berrach!«
Die Schwester stieß ein mitleiderregendes Stöhnen hervor.
»Seht Ihr?« wimmerte sie. »Seht Ihr? Sind sie gekommen, um mich zu bestrafen?«
»Schwester Fidelma!«
Fidelma erkannte die Stimme von Schwester Lerben, die den Lärm übertönte. Allmählich verstummte der Sprechchor.
Fidelma erhob sich und ging zur Tür. Sie warf Schwester Berrach einen Blick zu und versuchte, ermutigend zu lächeln.
»Habt Vertrauen zu mir«, beruhigte sie das Mädchen. Dann schob sie den Tisch beiseite und öffnete die
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