Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Die Tote im Klosterbrunnen

04 - Die Tote im Klosterbrunnen

Titel: 04 - Die Tote im Klosterbrunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Tremayne
Vom Netzwerk:
Schrift rechten?« entgegnete die Novizin stur.
    »Laut dem Matthäus-Evangelium hat Unser Herr gesagt: ›Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.‹« Fidelma schleuderte Lerben das Zitat entgegen und wandte sich dann an die plötzlich still gewordenen Schwestern hinter ihr. »Schwestern, man hat Euch in die Irre geführt. Beruhigt Euch und kehrt in Eure Schlafräume zurück. Berrach ist nicht die Schuldige.«
    Ein Raunen ging durch die Versammelten. Lerben versuchte, ihre Autorität wiederherzustellen. Ihr Gesicht war rot vor Zorn, hatte sie doch gehofft, durch ihre Belesenheit die unumstrittene Achtung und Ergebenheit der anderen Schwestern zu gewinnen.
    »Ihr weist also Ultans Entscheidung zurück?« fragte sie Fidelma.
    »Sicher, wenn sie nicht der Wahrheit und dem irischen Gesetz entspricht.«
    »Draigen ist hier Äbtissin, und ihr Wort ist das Gesetz!« entgegnete das Mädchen.
    »Das ist nicht richtig«, erwiderte Fidelma mit entschlossener Stimme. Sie begriff, daß sie die Versammelten so schnell wie möglich zerstreuen mußte. Je länger die Erregung andauerte, desto leichter konnte die Situation außer Kontrolle geraten. Fidelma hatte offenbar richtig vermutet: Draigen mußte Lerben ermutigt haben, die Angst vor Berrach noch zu schüren. Sie konnte die gefährliche Situation nur entschärfen, indem sie ihre ganze Autorität in die Waagschale warf. Klar und deutlich wiederholte sie: »Ich bin kürzlich von Eurem Oberkönig berufen worden. Ich bin auf Ersuchen Eures Königs und Eures Bischofs hierhergekommen. Und vermittels der Autorität des Abtes von Ros Ailithir, falls Ihr andere Autoritäten nicht respektiert. Solltet Ihr Berrach etwas zuleide tun, so werdet Ihr und alle, die sich daran beteiligen, Euch für den Mord an einer Glaubensschwester zu verantworten haben.«
    Bestürztes Gemurmel lief durch die Reihen der Schwestern. Sie kannten das Gesetz gut genug, um zu wissen, daß der Mord an seinem Nächsten nach dem irischen Strafgesetzbuch als eines der schwersten Verbrechen galt. Sogar der Oberkönig würde durch einen solchen Mord sein Anrecht auf sein Amt und seine Würde verwirken. Die Kreuzigung Christi galt in Irland als Präzedenzfall für einen Mord an seinem Nächsten, denn man betrachtete die Juden als Christi Angehörige mütterlicherseits. Sämtliche Gesetze und gelehrten Bücher betonten seit unvordenklichen Zeiten, wie verdammungswürdig ein Mord an seinem Nächsten sei; eine solche Tat war ein Schlag gegen die Grundfesten der Gesellschaftsstruktur und ihren Kern, die Familie.
    »Ihr würdet es wagen …?« begann Schwester Lerben unsicher. »Ihr würdet es wagen, uns anzuklagen?« Doch schon schwand ihre Unterstützung in diesem Konflikt.
    »Schwestern«, wandte sich Fidelma nun an alle, die sich unsicher hinter Lerben zusammendrängten. Da sie ihr jetzt aufmerksam zuhörten, hatte es wenig Sinn, das Wort weiterhin an die unerfahrene, arrogante Novizin zu richten.
    »Schwestern, ich habe Schwester Berrach verhört, und ich bin überzeugt davon, daß sie an der Ermordung Síomhas unschuldig ist. Sie ist zufällig auf den Leichnam gestoßen, genau wie Äbtissin Draigen kurz nach ihr, und sie trägt ebensowenig Schuld an dem Verbrechen wie Eure Äbtissin. Laßt Euern Verstand nicht von Furcht vernebeln. Es ist so leicht, sich gegen das zu wenden, was man fürchtet, und es zu vernichten. Zerstreut Euch in Eure Schlafräume, und laßt uns dies alles vergessen – es war nur der Wahn eines Augenblicks.«
    Die Schwestern sahen einander an wie hilflose Schäfchen in der Finsternis, und einige begannen sich zurückzuziehen.
    Lerben trat einen Schritt vor, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt, doch Fidelma war entschlossen, ihren Vorteil zu nutzen. In diesem Augenblick tauchte die besorgte Schwester Brónach im Hintergrund der Gruppe auf.
    »Schwester Brónach, ich möchte, daß Ihr Schwester Lerben zu ihrem Gemach begleitet, während ich die Äbtissin aufsuche. Das ist ein Befehl kraft meines Ranges«, fügte sie hinzu, als Brónach zögerte. Dann wandte sie den Versammelten bewußt den Rücken zu und trat wieder in Berrachs Gemach. Gleich hinter der Tür blieb sie stehen, mit geschlossenen Augen und rasendem Herzschlag, und fragte sich, ob es ihr gelungen war, die Situation restlos zu entschärfen. Würde Lerben einen weiteren Versuch

Weitere Kostenlose Bücher