04 - Herzenspoker
auf Madame Chartreuses Kopf niedersausen. Dann nahm sie Peter an der
Hand und wollte zu ihrem Sitzplatz zurückgehen. Madame Chartreuse sprang jedoch
Esther von hinten an, zog ihr den Hut herunter, warf ihn in die Sägespäne auf
dem Boden, sprang darauf herum und begann eine Art Kriegstanz aufzuführen.
Esther, deren prachtvolle rote Haare sich jetzt über ihre Schultern ergossen,
setzte Peter neben seine Schwester, befahl ihm streng, sich nicht
fortzubewegen, marschierte zurück zu Madame und versetzte ihr eine solche
Ohrfeige, dass die Schauspielerin in die Knie ging. Madame Chartreuse erhob
sich wieder; ihre Augen blitzten vor Hass.
»Eine
Rauferei! Eine Rauferei!« brüllten die Zuschauer freudig.
»Hundert
zu eins für die Amazone!« rief ein junger Mann außer sich vor Begeisterung, als
er Esther in voller Schönheit sah. »Schaut euch die Schultern an!« rief er.
Lord
Guy betrat in dem Moment, als die zwei Frauen wieder aufeinander losgingen, im
Laufschritt die Bühne. Mit energischem Griff packte er beide Frauen an den
Handgelenken und drehte sie so herum, dass sie in den Zuschauerraum blickten.
»Verbeugen!«
zischte er wutentbrannt. »Verbeugen, verdammt noch mal, alle beide!«
Nicht
wissend, wie ihr geschah, verbeugte sich Esther; und auch Madame Chartreue, die
schnell die Gunst der Stunde erfasste, verbeugte sich.
Der
Applaus, der jetzt losbrach, übertraf alles bisher Gewesene. Es wurden Geld und
Schmuckstücke in das Zirkusrund geworfen. Keiner von den Zuschauern kam auf die
Idee, dass die Aufführung nicht so geplant war.
Esther
begann zu zittern, und ihr wurde ganz übel. Was hatte sie getan? Amy und Peter
tanzten auf den vorderen Bänken herum und schrien sich vor Begeisterung heiser.
»Nehmen
Sie die Kinder«, flüsterte Lord Guy Esther ins Ohr. »Es ist Zeit zu gehen.«
Er
winkte den Zuschauern leutselig zu und gab dabei Madame Chartreuses Hand frei,
Esthers Hand hielt er aber weiter fest umschlossen. Willenlos ließ sie sich den
Mittelgang hinaufführen, während sich Peter und Amy an Lord Guys Rockschößen
festhielten. Sie gingen durch den Tumult einen schmalen Weg entlang, der durch
einen Wald klatschender Hände führte. Mr. Roger versuchte, sich einen Weg zu
bahnen und sich ihnen anzuschließen, aber als sein Blick dem von Lord Guy
begegnete, schüttelte dieser den Kopf.
Draußen
auf der Straße stand Esther zitternd mit gesenktem Kopf da. »Wo ist Ihre
Kutsche?« fragte Lord Guy.
»Ich
bin in einer Mietkutsche gekommen.«
»Manuel«,
rief Lord Guy. Sein Diener war plötzlich an seiner Seite. »Meine Kutsche,
sofort«, sagte Lord Guy
Peter
und Amy waren ganz still geworden. Sie schauten voller Angst zu ihrer großen
Schwester auf. Etwas war furchtbar schiefgegangen. Aber sie glaubten immer
noch, dass Esther alles ganz raffiniert als Überraschung geplant hatte.
»Bitte
verlassen Sie mich, Mylord«, bat Esther leise.
»Denken
Sie an die Kinder«, sagte er. »Die Abendluft ist kalt. Ich habe eine
geschlossene Kutsche.«
Sie
sagte nichts mehr, hielt aber den Kopf weiter gesenkt; ihr schweres rotes Haar
verbarg ihr Gesicht.
Lord
Guy war dankbar, dass er für die Saison eine geschlossene Kutsche gemietet
hatte. Sein Rennwagen war für gutes Wetter wunderbar, aber in diesem
winterlichen Frühjahr für eine abendliche Unternehmung ganz ungeeignet.
Er half
ihr und den Kindern beim Einsteigen und bat dann den Kutscher, sie zum Berkeley
Square zu fahren.
Esther
wäre vor Scham am liebsten in den Boden versunken. Sie hatte sich vor
zahlreichen Londonern wie ein ordinäres Waschweib aufgeführt, und jetzt ließ
sie es zu, dass sie und die lieben Kinder von einem Wüstling nach Hause
begleitet wurden.
»Hat
euch der Abend gefallen, Kinder?« hörte sie Lord Guy fragen.
»Es war
der schönste Abend meines Lebens«, sagte Peter feierlich. »Esther, das hast du
wirklich großartig eingefädelt.«
Esther
blickte auf und öffnete den Mund zu einer Erklärung, aber im Schein der
Kutschenlampe, die an einer Schnur von der Decke baumelte, sah sie, dass Lord
Guy fast, unmerklich den Kopf schüttelte.
»Die
Hauptsache ist, dass es euch gefallen hat«, sagte sie ohne innere Anteilnahme.
Amy
umarmte ihre große Schwester. »Ich liebe dich, Esther«, sagte sie. »Ich war
noch nie so glücklich.«
Esther
drehte den Kopf zur Seite und musste mit den Tränen kämpfen. Sie führte ein
einsames Leben und tat soviel für die Kinder, wie sie nur konnte. Es war immer
ihr Wunsch gewesen, ihnen zu
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