04 Verhaengnisvolles Schweigen
einigermaßen sehen lassen - ein großspuriger, hagerer Jüngling mit lockigen, kastanienbraunen Haaren und einem herzlichen, knabenhaften Lachen. Ein echter Charmeur.
Dreimal hatte er sie zu einem Drink ausführen wollen, dreimal hatte sie nein gesagt. Sie hatte noch nie einen Fuß in einen Pub gesetzt. Ihre Großmutter hatte sie gelehrt, dass es allesamt Lasterhöhlen waren. Außerdem machte Katie den Alkohol für die Boshaftigkeit ihres Vaters und das Elend ihrer Mutter verantwortlich. Ihr war damals nicht klar, dass Sam ihre Ablehnung eines Drinks als Ablehnung seiner Person auffasste. Wenn er mich nur zu einem Spaziergang einladen würde, hatte sie gedacht, oder vielleicht zu einem Kaffee ins Kardomah oder zu einem kleinen Essen nach der Arbeit.
In aller Verzweiflung hatte er schließlich einen Samstagsausflug nach Otley vorgeschlagen. Obwohl Katie bereits volljährig war, fiel es ihr immer noch schwer, ihre Großmutter zu überreden, sie gehen zu lassen, erst recht, weil sie auf Sams Motorrad mitfahren sollte. Doch letztlich hatte die alte Frau nachgegeben und mürrisch vor der Schlange im Paradies und Wölfen in Schafspelzen gewarnt.
In Otley waren sie dann unweigerlich in einen Pub eingekehrt. Sam hatte sie praktisch ins Red Lyon zerren müssen, wo sie schließlich ihren Schutzwall eingerissen hatte und damit herausgeplatzt war, warum sie sich zuvor geweigert hatte, sich zu einem Drink einladen zu lassen. Er hatte gelacht und sanft ihre Schulter berührt. Sie trank ein Bitter Lemon, und keinem von beiden passierte etwas Schreckliches. Danach ging sie häufiger mit ihm in Pubs, lehnte aber weiterhin jeden Alkohol ab und fühlte sich nie richtig wohl dabei.
Doch jetzt, dachte sie und drehte sich wieder um, war das Leben unerträglich geworden. Früher, kurz nach ihrer Hochzeit und nachdem Katie gelernt hatte, Sams sexuelle Forderungen hinzunehmen, hatte es noch Hoffnung gegeben. Sie hatten mit seinen Eltern in einem kleinen Bergarbeiterhaus in Armley gewohnt und jeden Penny gespart, den sie verdienten. Sams Traum war ein Gästehaus in den Dales, und damals hatten sie gemeinsam daran gearbeitet, ihn zu verwirklichen. Trotz der Überstunden, des beschränkten Wohnraumes und der fehlenden Privatsphäre waren es glückliche Zeiten gewesen, denn sie hatten ein gemeinsames Ziel gehabt. Inzwischen hatten sie es erreicht und Katie hasste es. Sam hatte sich verändert: Er war versnobt, gefühllos und grausam geworden.
Wie jede andere Nacht in den vergangenen Monaten schrie sie innerlich bei dem Versuch, Sams Schnarchen zu ignorieren und stattdessen der Brise zu lauschen, die dort draußen durch die Weiden am namenlosen Strom fauchte. Sie würde warten und sich ruhig verhalten. Wenn nichts passierte, wenn aus ihrer einzigen Fluchthoffnung nichts wurde, dann würde sie sich eines Nachts so leise wie ein Dieb aus dem Haus schleichen und niemals zurückkehren.
In Zimmer fünf kniete Neil Fellowes vor dem Bett und betete.
Er war gerade noch rechtzeitig aus seinem Vollrausch erwacht, um sich ins Waschbecken zu erbrechen. Danach hatte er sich wesentlich besser gefühlt. Auf jeden Fall so gut, dass er hinuntergegangen war und die Lammkoteletts mit Minzsoße gegessen hatte, die Mrs Greenock so vorzüglich zubereitet hatte. Denn Rest des Abends hatte er lesend in seinem Zimmer verbracht.
Und jetzt, als er wie immer versuchte, in seinen Gebeten die Wörter mit seinen Gedanken und Gefühlen in Einklang zu bringen, merkte er, dass er nicht dazu in der Lage war. Das Bild der Leiche kehrte immer wieder zurück und verdrängte die Vorstellung von Gott, die er sich aus der Kindheit erhalten hatte: ein alter Mann mit einem langen, weißen Bart, der mit einem Buch auf seinem Schoß auf einer Wolke saß. Plötzlich hatte er auch den Geruch wieder in der Nase, es kam ihm vor, als versuchte er, auf dem Grund einer stickigen Kloake einzuatmen. Und er sah wieder den blutigen, madenübersäten Brei, der einmal ein Gesicht gewesen war, das weiße, sich im Verfall kräuselnde Hemd, das ganze, sich in einer widerlichen Parodie von Atmung hebende und senkende Ding.
Er wollte seine Gedanken mit aller Macht wieder auf das Gebet konzentrieren, aber es gelang ihm nicht. In der Hoffnung, dass Gott Verständnis zeigen und ihm die Ruhe schenken würde, die er benötigte, gab er es auf, legte seine Brille auf den Tisch und ging ins Bett.
Kurz vor dem Einschlafen schaffte er es immerhin, den Verlauf der
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