Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
Kiktahan Schonka konnte das nicht. Und doch war grad er derjenige, der sich am allermeisten fürchtete.
    „Helft mir; helft mir!“ brüllte er. „Ich will hinunter, ich auch, ich auch!“
    Aber die Häuptlinge hatten es sehr eilig. Sie halfen ihm nicht. Es mußten einige andere kommen, um ihren Allerobersten hinunterzuschaffen. Dabei verlor er die Skalpperücke. Er achtete gar nicht darauf. Sie mußte hinter ihm hergetragen werden, bis er sein Pferd erreichte. Da setzte er sie auf und erteilte den Befehl, sofort von hier aufzubrechen und die Devils pulpit zu verlassen, deren Ansehen jedenfalls nun in der Weise gestiegen war, daß sie noch zehnmal heiliger galt als vorher. Man war nun nur darauf bedacht, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Man verzichtete sogar darauf, auf Old Shatterhand zu warten, um ihn hier zu fangen. Die Posten und Wächter wurden zurückberufen, und dann ritten sie davon, alle achtzig, im Gänsemarsch, wie sie gekommen waren.
    Indem wir ihnen nachschauten, spielte ein fröhliches Lächeln um die Lippen des ‚Jungen Adlers‘, und ich glaube, ich habe auch nicht geweint.
    „Dieser Sieg freut mich mehr“, sagte er, „als wenn wir mit ihnen gekämpft und sie alle erschlagen hätten. Es ist ein Sieg der Wissenschaft, nicht des blutigen Tomahawk.“
    „Ist dir dieser Teil der Wissenschaft bekannt?“ fragte ich ihn.
    „Ja. Ich mußte ihn kennenlernen. Die Akustik gehört zur Lehre von der Luft. Ich ging zu den Bleichgesichtern, um die Aerostatik und Aeronautik zu studieren. Ich weiß, daß schon die alten Assyrier, Babylonier und Ägypter das Geheimnis kannten, an dem einen Punkt sehr deutlich zu hören, was an einem andern, entfernten Punkt gesprochen wird. Ich bin so froh und so stolz, heut erfahren zu haben, daß die Ahnen der heutigen roten Rasse in diesem Wissen nicht hinter jenen Völkern zurückgestanden haben. Es ist unsere Pflicht, alles, was uns seitdem verlorengegangen ist, in die erwachende Seele unserer Nation zurückzurufen. Wir bitten den großen, guten Manitou, uns Kraft und Fröhlichkeit zu diesem wichtigen und schönen Werk zu verleihen!“
    Es war zum ersten Male, daß er aus sich herausging und in dieser Weise sprach. Ich wunderte mich keineswegs über das, was ich hörte. Er war ein stiller, hochbegabter junger Mann. Und er besaß die nötige Energie, auch Ungewöhnliches zu erreichen. Auf seinem schönen, ernsten Gesicht lag jetzt ein warmer, beinahe sonniger Schein, so köstlich lieb und sympathisch, wie er so oft die Züge meines herrlichen Winnetou durchgeistigt und umflossen hatte. Es kam mir vor, als sei der ‚Junge Adler‘ in diesem Augenblick meinem unvergeßlichen roten Freund außerordentlich ähnlich geworden, fast wie Bruder und Bruder!
    Als der letzte der achtzig Indianer verschwunden war, verließen wir unsern Lauscherposten. Doch kehrten wir nicht direkt nach oben zurück, sondern wir gingen zunächst nach dem vorderen Teil des Kessels, wo die Indsmen gewesen waren, und schritten den Platz ab, um nachzuschauen, ob aus ihren Spuren vielleicht etwas für uns Brauchbares zu lesen sei. Es gab nichts. Aber als ich schließlich noch einmal hinauf auf die Pulpit stieg, wo die Häuptlinge gesessen hatten, sah ich auf einer der Stufen, ganz im hintern Winkel derselben einen Gegenstand liegen, der vor der Ankunft der Indianer sicher noch nicht dagelegen hatte, weil er sonst ganz bestimmt von mir bemerkt worden wäre. Ich hob diesen Gegenstand auf und betrachtete ihn. Es waren zwei kleine, niedliche Hundepfötchen, nicht etwa nur die Krallen, sondern die Pfötchen, glatt abgeschnitten und an den Schnittflächen mit Hirschsehne sehr sorgfältig zusammengenäht, so daß sie ein Doppelhändchen bildeten, dessen Finger nach entgegengesetzter Richtung lagen. Ich zeigte es dem ‚Jungen Adler‘.
    „Eine Medizin!“ rief er aus.
    „Sehr wahrscheinlich! – Aber wessen Medizin?“ fragte ich.
    „Kiktahan Schonka!“
    „Hoffen wir es! Aber wie konnte er sie verlieren? Medizinen pflegt man doch im verschlossenen Medizinbeutel zu tragen! Es sind Hundefüße, nicht vom Fuchs oder Wolf, und der Häuptling der Sioux heißt der ‚Wachende Hund‘. Ich zweifle also nicht, daß er es ist, der sie verloren hat. Aber wie war es möglich, daß dies geschah? Mein junger, roter Bruder, schaue nach!“
    Ich gab sie ihm. Er betrachtete sie sehr aufmerksam, reichte sie mir dann zurück und antwortete:
    „Diese Medizin hat nicht im Medizinbeutel gesteckt, sondern

Weitere Kostenlose Bücher