04 - Winnetou IV
diesen falschen an seine Stelle gebracht. Aber ist das nicht unvorsichtig oder gar gefährlich? Konnte das nicht ebensogut auch jeder andere außer dir entdecken?“
„Nein. Wenn es grüne Zweige wären, dann ja. Da würde der Tannenzweig mit seiner ganz anderen Benadelung sofort auffallen. Da es aber vertrocknete Äste sind, an denen man nur wenige Nadeln sitzen ließ, konnte nur ich allein den Treffer machen, und zwar auch nur deshalb, weil ich vorher ganz besonders aufmerksam gemacht worden war. Bitte, entfernt diesen Zweig!“
„Abbrechen?“
„Nein, sondern herausziehen.“
Sie tat es. Es war an der Stelle des ursprünglichen Astes ein Loch gebohrt und der Tannenzweig dann hineingesteckt worden. Dieses Loch war jetzt zu sehen; aber es hatte nur der Zweig darin gesteckt; es war leer. Nun untersuchte ich den Stamm in der Nähe des Bohrloches. Ganz richtig! Man hatte die Rinde in Form einer Klappe losgelöst und dann mit dem Ast wieder fest angesteckt. Als ich diese Klappe öffnete, fiel ein weißes Papier heraus. Das Herzle griff eiligst zu und rief freudig aus:
„Das ist die ‚Stimme des Baumes‘! Das ist sie! Oder nicht?“
„Gewiß ist sie es.“
„Was so ein Indianer für ein scharfsinniger und gescheiter Mensch ist!“
„Ja“, lachte ich. „Und welch eine beispiellose Klugheit von einer weißen Squaw aus Radebeul, die das alles sogleich entdeckt!“
Da lachte sie mit und sagte:
„Habe ich diese Entdeckung etwa nicht dadurch eingeleitet, daß ich den Unterschied zwischen Tanne und Fichte sehr wohl kannte? Laß uns lesen!“
Da sie daheim meine Sekretärin ist und fast meine ganze Korrespondenz besorgt, hielt sie sich für berechtigt, auch dieses Blatt zu öffnen und vorzulesen. Sie zog schon die Augenbrauen in die Höhe, um ein möglichst wichtiges Gesicht zu machen; aber diese Wichtigkeit fiel sofort wieder in sich zusammen, und in sehr enttäuschtem Ton erklang die Klage:
„Das kann ich aber nicht lesen – leider, leider!“
„Wohl in indianischer Bilderschrift?“
„Nein. Es sind englische Buchstaben; aber die Sprache ist fremd.“
„Zeig her!“
„Da! Hier! aber setzen wir uns! Im Stehen begreift man schwerer.“
Sie setzte sich nieder und klopfte mit der Hand neben sich auf den Boden. Man weiß wohl bereits, was ich da zu tun hatte: Ich setzte mich neben sie nieder und las die Zeilen vor. Sie waren im Apatsche von derselben kalligraphisch geübten Hand auf dasselbe sehr gute Papier geschrieben wie der Brief, den ich daheim von Tatellah-Satah erhalten hatte. Die Übersetzung lautete:
„Warum suchtest du nur nach deadly dust? Nach tödlichem, goldenem Staub?
Glaubtest du wirklich, Winnetou, der überschwenglich Reiche, könne der Menschheit nichts Besseres hinterlassen?
War Winnetou, den du doch kennen mußtest, so oberflächlich, daß du es verschmähen durftest, in größerer Tiefe zu suchen?
Nun weißt du, warum ich dir zürnte. Sei mir willkommen, wenn du verstehst, es mir zu sein!“
Das war der Brief des alten ‚Tausend Jahre‘. Ich faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Wir sahen einander an.
„Ist das nicht sonderbar?“ nickte ich. „Er schreibt ganz dasselbe, was du gesagt hast. Ich bin beschämt, außerordentlich beschämt!“
„Nimm es dir nicht zu Herzen!“
„O doch! Ich habe da eine Sünde an Winnetou begangen, die ich mir unmöglich verzeihen kann. Und nicht nur an Winnetou allein, sondern an seiner ganzen Rasse! Jetzt bin auch ich überzeugt, daß wir noch mehr und noch viel Wichtigeres finden werden, als ich damals gefunden habe.“
„Weil der alte Tatellah-Satah es sagt?“
„Nicht nur deshalb, sondern noch viel mehr aus dem Grund, der in Winnetous Charakter liegt. Ich habe tief unter diesem hohen, edlen Charakter hinweggesehen und tief unter ihm hinweggehandelt. Das ist meine Sünde. Er würde gütig lächeln und mir verzeihen; ich aber lächle nicht. Bedenke, daß über dreißig Jahre unnütz vergangen sind! Ein volles Menschenleben! Komm, Herzle, wir müssen graben!“
„Ja, solange die Enters fort sind“, stimmte sie bei.
„Nicht das! Mir ist es jetzt gleich, ob sie da sind oder nicht. Horch! Ich höre ihre Stimmen. Sie sprechen mit Pappermann. Sie sind also schon zurück.“
Ja, sie waren wieder da, und zwar mit einem Präriehasen, der sich in die Berge herein verlaufen hatte. Sebulon tat wunder, was das für eine Heldentat von ihnen sei; ich aber fiel ihm kurz entschlossen in die prunkende Rede:
„Legt das
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