04 - Winnetou IV
nicht. Ich hatte ihn gestern abend vor dem Schlafengehen genau instruiert.
Es war noch nicht Mittag, als die Berge im Süden auftauchten. Sie wurden umso höher, je näher wir kamen. Auf ihrer höchsten bewaldeten Kuppe stand noch immer jener Baum, der über alle andern emporragte. Auch dem Herzle fiel er auf.
„Wie das so stimmt!“ sagte sie. „Nicht wahr, da hinauf hatte Winnetou seinen Späher geschickt?“
„Ja“, nickte ich.
„Sag, wie ist es dir nur zumute? Ich möchte weinen. Du nicht auch?“
Ich antwortete nicht.
Wir umritten die dunklen Höhen auf ihrer westlichen Seite und bogen dann im Süden nach links ein, um an das tief hineinführende Tal zu kommen, welches meine Leser alle kennen. Diesem folgten wir bis an die betreffende Seitenschlucht, die uns weiter hinaufleitete und dann sich teilte. Da stiegen wir ab und kletterten, die Pferde an den Zügeln führend, zu der scharfkantigen Höhe empor, hinter welcher das Terrain sich wieder senkte. Dann ging es jenseits hinab und in gerader Richtung in den Wald, bis wir unser Ziel erreichten. Da standen sie beide, das Grabmal, in welchem Intschu tschuna, der Vater meines Winnetou, hoch auf dem Rücken seines Pferdes saß, und die Steinpyramide, aus welcher der Baum zur Höhe stieg, an dessen Stamm Nscho-tschi zur Ruhe bestattet worden war. Ich hielt an. Es überkam mich ein Gefühl, als ob ich erst gestern zum letzten Mal hier gewesen sei. Die Bäume waren höher geworden und das Unterholz etwas dichter. Sonst aber schien es, als ob die tiefe, ergreifende Ruhe dieses Ortes jahrzehntelang von keinem Windeshauch gestört worden sei.
„Da liegen die Häuptlinge der Kiowas“, sagte Sebulon Enters.
„Wir sind also an Ort und Stelle. Bleiben wir heute da?“
„Ja, vielleicht auch morgen noch“, antwortete ich.
„Schaffe die beiden wenigstens einstweilen fort!“ bat meine Frau leise. „Sie sollen mir diese erste Stunde nicht verderben!“
Schon wollte ich ihr diesen Wunsch erfüllen, da kam Sebulon mir zuvor:
„Soll ich vielleicht mit meinem Bruder gehen, um einen frischen Braten zu schießen? Oder gibt es gleich jetzt die versprochenen Bärentatzen?“
„Ja, geht und versucht, ob ihr irgend etwas vor das Rohr bekommt!“ fiel Klärchen schnell ein. „Ihr habt mehrere Stunden lang Zeit. Wir essen erst am Nachmittag.“
Sie entfernten sich. Ich schlug mit Pappermann das Zelt auf. Der brave Alte vermied dabei soviel wie möglich alles Geräusch. Er sah, daß das Herzle am Grab der Schwester kniete und betete. Ich darf es wohl verraten: sie betet oft und gern. Dann kam sie zu dem Grab des Häuptlings. Am Fuß desselben, genau an der Westseite, gab es eine kleine, etwas eingesunkene Stelle, die aber auch, wie ihre Umgebung, mit moosigem Gras überwachsen war.
„Hier hast du wohl damals gegraben?“ fragte sie.
„Ja“, antwortete ich. „Ich habe das Loch zwar sehr sorgfältig wieder geschlossen, aber während des Grabens ist doch soviel Erde verlorengegangen, daß sie später fehlte, als die Füllung sich nach und nach setzte. Daher diese Vertiefung.“
„Die aber auch andere auf den Gedanken bringen kann, nachzugraben!“
„Mögen sie es tun! Sie würden wohl nichts finden.“
„Ich bitte dich, das nicht so sicher zu sagen. Ich habe nämlich einen Gedanken.“
„Ah! Wirklich?“
„Ja, wirklich! Und zwar nicht erst jetzt, sondern schon während des ganzen Vormittags.“
„Du schienst allerdings sehr nachdenklich zu sein. War es das?“
„Ja, nichts anderes.“
„So bitte, laß es mich wissen!“
Ich bin nämlich gewohnt, die Gedanken und Gefühle meiner Frau in allen Stücken mit in Erwägung zu ziehen. Ihr angeborener Scharfsinn kommt mir oft zur Hilfe, während mein mühsam erworbener Scharfblick mich in die Irre führt. Ich gebe gern zu, daß die Frau dem Mann in Beziehung auf die feineren Instinkte überlegen ist. Darum freue ich mich immer, wenn die meinige mir sagt, daß sie einen ‚Gedanken‘ oder eine ‚Ahnung‘ habe, denn ich weiß, daß es mir zur Hilfe dient. So auch jetzt. Sie antwortete:
„Je näher wir heut diesen Bergen kamen, desto deutlicher und zusammenhängender trat alles, was du von ihnen erzählt hast, vor mich hin. Und da kam mir ein Wort in den Sinn, welches nicht wieder weichen wollte. Winnetou hat es zu dir gesagt, und zwar wiederholt. Weißt du noch, wie er das Gold, die Nuggets, zu nennen pflegte?“
„Meinst du etwa deadly dust?“
„Ja, tödlicher Staub. Noch ganz kurz vor seinem
Weitere Kostenlose Bücher