04 - Winnetou IV
erklären konnte, wie es bei dem Raub des Testamentes zugegangen war. Hariman Enters hatte während dieses ganzen Rittes und dieser ganzen Instruktion kein einziges Wort gesprochen und mich kein einziges Mal angesehen. Er tat mir leid. Seine Wangen glühten zuweilen; oft wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er fieberte. Ganz anders sein Bruder. Dieser schien ganz unberührt. Er zeigte eine Ruhe, die selbst ein guter Menschenkenner vielleicht für echt gehalten hätte. Aber seine Augen – seine Augen! Die hatte er nicht in der Gewalt! Die verrieten alles, alles! Er war wütend darüber, daß die Streiche seines Vaters nicht so geglückt waren, wie es in dessen Absicht gelegen hatte. Er haßte mich wahrscheinlich noch tiefer und noch glühender, als dieser mich gehaßt hatte. Er war eines jeden Verbrechens, sogar des Mordes, gegen mich fähig. Und doch brauchte ich ihn nicht zu fürchten, wenigstens jetzt noch nicht, weil er mich an Kiktahan Schonka abzuliefern hatte, und zwar, wie sich ganz von selbst verstand, lebendig und vollständig heil.
Auch er bemerkte jetzt die kleine Bodenvertiefung am Häuptlingsgrab. Er betrachtete sie, sann nach und fragte mich dann:
„Hier habt Ihr wohl gegraben, damals?“
„Ja“, nickte ich.
„Da lag das Testament?“
„Ja. Und nicht nur das Testament.“
„Was noch?“
„Das weiß ich nicht; ich werde es aber erfahren. Ich bitte euch, mir eure Spaten zu borgen.“
„Wozu?“
„Um zu graben.“
„Noch einmal? – Hier? – An dieser Stelle?“
„Gewiß noch einmal! Und an derselben Stelle!“
„So glaubt Ihr wirklich, wirklich, daß damals nicht alles herausgenommen worden ist?“
„Das glaube ich, grad das!“
Da leuchteten seine Augen infolge einer inneren Flamme glühend auf, und seine Stimme klang vor Erregung heiser, als er rief:
„Und da soll ich Euch unsere Spaten borgen! Fällt mir gar nicht ein! Nicht im Traum! Wir graben selbst, wir selbst, mein Bruder und ich!“
Er rannte dorthin, wo die Spaten lagen, holte sie, hielt seinem Bruder einen hin und forderte ihn auf:
„Steh auf, und heule nicht, alte Memme! Du hörst es ja: Das Nest ist nicht ganz ausgenommen worden! Es gibt noch was zu holen! Wahrscheinlich viel, sehr viel! Steh auf; steh auf! Arbeiten heißt es jetzt, arbeiten!“
Hariman hatte sich wieder niedergesetzt und den Kopf gesenkt! Er stieß den ihm angebotenen Spaten von sich und sagte:
„Laß mich! Ich arbeite nicht! Ich rühre keine Hand! Verflucht sei all das Gold und deine Sucht, es anderen zu entreißen! Du wirst an ihr zugrunde gehen, genau wie er – wie er!“
„Nein! Gib dir keine Mühe! Ich habe genug!“
„Feigling! Verdammte Memme!“ zischte Sebulon ihn verächtlich an.
Da erhob sich Hariman mit einem schnellen Ruck, trat hart an ihn heran und fragte in zornigem Ton:
„Wer ist die Memme? Du oder ich? Ich habe den Mut, zu kämpfen; du aber hast ihn nicht! Ich will frei sein, frei von diesem Teufel, der uns besessen hat und auch heute noch besitzt. Er ist ohne Gnade und ohne Erbarmen. Er gebietet uns, ihm zu gehorchen, oder zugrunde zu gehen. Er fordert von uns das Verbrechen oder den Sühnetod für den Vater. Dir fehlt der Mut, gegen ihn zu kämpfen; darum wählst du das Verbrechen; ich aber wähle … den Tod. Ich wiederhohle also die Frage: Wer ist die Memme? Du oder ich?“
„Ich wähle nicht das Verbrechen, sondern ich wähle das Gold, das Gold! Und wenn du nicht hilfst, so nehme ich mir es allein!“
Er warf den einen Spaten hin und begann, mit dem anderen zu graben. Hariman setzte sich wieder nieder. Da trat Pappermann herbei, griff nach dem am Boden liegenden Spaten und sagte:
„Ich helfe mit. Zwei fördern mehr als einer.“
Sebulon aber fuhr ihn schnell an:
„Fort mit Euch! Ihr habt hier nichts zu suchen! Ich dulde keinen anderen!“
„ Well! Ganz wie Ihr wollt! Ich glaubte, Euch einen Gefallen zu tun!“
Er ließ den Spaten wieder fallen. Sebulon aber arbeitete in einer Weise, als ob er von Sinnen sei. Er tat Stich um Stich, und zwar mit einem Übermaß von Kraft und Eile, als ob keine Minute zu verlieren sei und es sich um Leben und Seligkeit handle. Das Loch wurde tiefer und tiefer. Er starrte nur immer hinein. Er sah weder nach rechts noch nach links. Der Schweiß lief ihm von der Stirn und über die Wangen herunter.
„Das ist Wahnsinn – der offenbare Wahnsinn!“ flüsterte meine Frau mir zu. „Er tut, als ob ihm alles gehöre! Was soll daraus werden?“
„Nichts
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