040 - Die Faust Gottes
Konturen skelettierter Leichen.
Die abgerissenen Gestalten, die neben ihm und Therese her gingen, verstärkten noch den Eindruck der Tristesse und Trostlosigkeit. Nicht nur weil sie weinten, sondern weil sie vollkommen verdreckt und in Lumpen und Plastik gewickelt waren. Die Bewohner der Erdhöhlen unter den Ruinen und am Waldrand. Sie führten ihn zu den Orten, wo sie ihre Angehörigen gefunden hatten -tot und blutleer.
Dichter Wald löste die Ruinen ab. Überall glitzerte es über kahlen Büschen und schwärzlichem Farn. Therese fuhr die Maschine ein Stück ins Unterholz hinein. Dann stoppte sie und stellte den Motor ab. Reverend Pain stieg aus dem Sattel.
»Hier haben wir meine Schwester gefunden«, sagte ein junger Bursche. Drahtschlaufen und Stricke hielten die Plastikplane und die Lumpen an seinem dürren Körper fest. Trotz seiner Jugend war sein Haar grau.
Reverend Pain schritt um den Fundort der Leiche herum. Deutlich sah man ihren Abdruck im schwarzen Gestrüpp. Er ging in die Hocke. Gelenke und Korsettstangen krachten.
Therese trat neben ihn. Sie zündete eine Öllampe an und reichte sie ihm hinunter. Ein Hustenanfall schüttelte ihren schmalen Körper. Der Reverend leuchtete den gefrorenen Boden zwischen den Bäumen aus. Spuren führten vom Fundort der Leiche weg.
Gemeinsam folgten sie den Stiefeleindrücken; Pain an der Spitze, Therese und die Lumpengestalten hinter ihm. Sie gelangten schnell auf die andere Seite des kleinen Waldes. Vermutlich war er weiter nichts als ein ehemaliger Park.
Hinter den letzten Bäumen weitete sich ein großer Platz. Verkohlte Karosserie stand dort neben verkohlter Karosserie.
»Ein Parkplatz«, sagte Therese. »Ein ehemaliger Parkplatz.«
Auf der anderen Seite begrenzte ein Reihe hoher Bäume mit schwärzlichem, frostbedeckten Laub den ehemaligen Parkplatz. Dahinter sah man das schwarze Gemäuer eines großen Gebäudekomplexes. Er schien relativ gut erhalten zu sein.
»Vor Orguudoos Stern hamse da Kranke gepflegt un geheilt«, flüsterte der junge Lumpenmann mit den grauen Haaren. Die anderen nannten ihn Whooler. »Mein Opa hats verzählt…«
»Es gibt keinen Orguudoo«, sagte Pain ruhig. »Folglich kann es auch seinen Stern nicht geben. Das, wovon du sprichst, ist das Gericht des HERRN, mein Sohn. Der Allmächtige und Barmherzige selbst hat es über diesen Sündenpfuhl verhängt, um euch allen die Umkehr anzubieten.«
Pain ließ niemals eine Gelegenheit aus, um mit den Irrtümern aufzuräumen, die unter diesen elenden Erdlochhausern kursierten. Und mit den abergläubischen Verzerrungen dessen, was er für die Wirklichkeit hielt.
»Es hieß früher ›St. Johns Gardens Westminster Hospital‹«, sagte Therese. Pain sah die Nonne an. Verblüffung spiegelte sich in seiner zerfurchten Miene. Immer wieder schaffte die junge Frau es, den greisen Reverend in Erstaunen zu versetzen. Sie wusste von Dingen, die sonst niemand kannte.
Dort wo Therese herkam, verfügte man über einen riesigen Wissensschatz. Dort konnte man rechnen und Maschinen bauen - kleine jedenfalls -, und dort schien man auch nicht die Fähigkeit zu klaren Formulierungen und systematischen Gedanken eingebüßt zu haben wie hier oben in dieser trostlosen Trümmerlandschaft unter diesem bejammernswerten, abgerissenen Volk. Therese stammte aus einem Bunker.
»Wer auch immer die armen Menschen überfallen und ausgesaugt hatte - er haust in den Ruinen der alten Klinik.« Die Nonne deutete hinüber zu dem Gebäudekomplex hinter den Bäumen.
Ihre Kindheit und Jugend hatte sie unter der Erde verbracht. Aus dem lückenlosen Wissensfundus ihres Volkes erfuhr sie von der Kirche und der christlichen Lehre. Eine göttliche Vision war es schließlich, die den Ausschlag für den letzten Schritt gab: Gegen den Willen ihrer Eltern verließ sie den Bunker.
Und begegnete Reverend Pain.
Für den greisen Gottesmann keineswegs ein Zufall. Wer sollte ihm das Mädchen über den Weg geführt haben wenn nicht Gott der Herr? Betete er nicht seit Jahren um Nachwuchsstreiter für die Sache des Glaubens und der Heiligen Jungfrau?
Therese war für Pain fast noch mehr wert als der Treibstoffvorrat in seinem Schlafgewölbe. Jeden Tag legte er ihr die Hände auf und betete für sie: Therese war oft krank. Alle Arten von Entzündungen plagten sie.
Whooler und einige der Erdlochhauser wagten sich ein Stück auf den ehemaligen Klinikparkplatz hinaus. Zwischen den verkohlten und verrosteten Autowracks suchten sie nach Spuren.
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