040 - Paris, Stadt der Sünde
unterscheiden.
Würde sie Lord Rohan an seinen gesellschaftlichen Gepflogenheiten messen, würde sie ihn verabscheuen. Und den Mann, den sie einst für ihren leiblichen Vater gehalten hatte, für einen charakterfesten und ehrenhaften Menschen.
Doch dieser Mann hatte nicht nur sie, sondern auch seine leibliche Tochter kaltblütig im Stich gelassen. Lydia hatte ihm zwar nie Vorwürfe deshalb gemacht, aber ein wirklich rechtschaffener Mensch hätte ein Kind niemals verstoßen, selbst wenn seine Geburt zweifelhaft war. Rohan hätte so etwas niemals getan.
Nein, Rohan würde weder Gewalt anwenden noch andere im Stich lassen. Und Lydia wusste tief in ihrem Herzen, dass Elinor bei ihm in guten Händen war, sonst hätte sie nicht eingewilligt, Paris zu verlassen. Sie hoffte inständig, dass Elinor ein paar Wochen von Rohan verwöhnt, umschmeichelt, vielleicht sogar verführt wurde.
Durch ihn würde sie endlich erkennen, wie schön und begehrenswert sie war. Und wenn sie mit ihrer Jungfräulichkeit dafür bezahlte, dass er ihr die Augen öffnete, lohnte sich der Preis allemal.
Im Grunde glaubte Lydia nicht, dass Elinor noch unberührt war, wobei sie sich niemals freiwillig einem Mann hingegeben hätte. Aber es gab Geheimnisse in der Familie, Getuschel, Ausflüchte, Lügen. Grollende Bemerkungen von Nanny Maude.
Elinors stumme Trauer, der schmerzliche Ausdruck in ihren Augen, als sie vor sechs Jahren überstürzt für einige Monate verreisen musste. Was immer damals auch geschehen war, ihre Schwester hatte sehr darunter gelitten, und schon damals hatte Lydia ihre Tränen zurückgehalten, um sie zu schonen.
Natürlich hatte sie gewusst, wen die Schuld an Elinors Unglück traf. Die Frau, der sie nie verzeihen konnte, sosehr sie Lydia verhätschelt und vorgezogen hatte. Die Urheberin des Elends der Familie. Ihre Mutter.
Lady Caroline hatte jedes Recht auf Anteilnahme verwirkt, nicht nur wegen ihres zügellosen und leichtfertigen Lebenswandels, mit dem sie ihre Familie ins Unglück gestürzt hatte. In erster Linie wegen ihrer Lieblosigkeit Elinor gegenüber. Lydia konnte ihr viele Fehler nachsehen und verzeihen, aber nicht die Gefühlskälte, mit der sie ihre Schwester behandelte.
Sollte sie sich in Rohan täuschen, sollte er Elinor etwas antun, würde sie sich bitter an ihm rächen. Aber sie hatte die liebevolle Aufmerksamkeit gesehen, mit der er Elinor bedachte, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Mochte er auch der berüchtigte Fürst der Finsternis sein, Lydia war davon überzeugt, dass ein guter Kern in ihm steckte.
Und sie wollte ihren Beitrag leisten, um den Beweis zu erbringen. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, und es war nur ein kleines Opfer, das sie gerne bringen wollte. Schließlich hatte sie längst gelernt, dass Träume vom großen Glück sich nicht erfüllten. Es war klug und vernünftig, sich mit einem bescheidenen, wenn auch eintönigen Lebensglück zufriedenzugeben.
Nicht, dass Etienne de Giverney bescheiden oder eintönig zu nennen wäre.
Immerhin war er ein ansehnlicher junger Mann, vielleicht ein wenig humorlos und pedantisch. Seine Interessen galten vorwiegend seinem medizinischen Fachwissen, das kaum Raum für andere Dinge oder Menschen ließ. Allerdings spürte sie noch etwas anderes hinter der Fassade seiner Höflichkeit, das sie nicht durchschaute.
Dieses Verborgene störte sie, aber sie hatte sich vorgenommen, die Irritation nicht weiter zu beachten.
Etienne sah in Lydia eine hübsche Zierde seines Lebens, er würde sie gut behandeln, sie niemals schlagen, ihr Kinder schenken und ihr ein sorgenfreies Leben bieten.
Wesentlich wichtiger war freilich, dass ihre Ehe mit Etienne eine große Last von Elinors Schultern nehmen würde. Endlich musste sie sich keine Sorgen mehr um ihre Schwester machen.
Dieses kleine Opfer wollte Lydia gerne bringen, nach allem, was Nell für sie getan hatte. Im Übrigen blieb ihr gar keine andere Wahl. Charles Reading hatte ihr nie zu verstehen gegeben, dass sie ihm etwas bedeutete. Sie wusste, dass sie nicht als Gemahlin für ihn infrage kam, da er sich zum Ziel gesetzt hatte, eine reiche Erbin zu heiraten. Und aus unerklärlichen Gründen versagte ihre Menschenkenntnis in seinem Fall völlig. Sie vermochte nichts in seinem dunklen Blick, seinen untadeligen Manieren zu lesen. Keine Bewunderung, kein Verlangen, nicht einmal Bedauern. Sie wäre verrückt, von einem Glück mit ihm zu träumen.
Etienne hatte sie zum Château begleitet, und sie hatte heimlich
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