040 - Paris, Stadt der Sünde
dachte, war die Tatsache, dass sie ihm gleichgültig war. Elinor, in ihrer nüchternen Art, würde ihr erklären, das läge wohl daran, dass Mr Reading die Gesellschaft anderer Männer bevorzugte, und damit das Thema beenden. Lydias Weigerung, diese Frage zu klären, gab ihrer Fantasie vermutlich noch mehr Nahrung. Könnte sie offen über ihre Gefühle sprechen, hätte sie ihn gewiss längst vergessen.
Und nun stand er vor ihr, den Blick gebannt auf die Dächer der Häuser gerichtet, als wolle er die Geheimnisse des Weltenlaufs ergründen.
Sie war bereits im Begriff, sich abzuwenden und eine andere Richtung einzuschlagen.
Doch dann zögerte sie, spürte eine unerwartete Hitze, die ihr ins Gesicht stieg, und legte die Hand an die Wange, um sie zu kühlen. Du benimmst dich völlig lächerlich, schalt sie sich. Da er kein Interesse an ihr zeigte, konnte sie sich unbeschwert mit ihm unterhalten, ohne unerwünschte Avancen befürchten zu müssen.
Vermutlich interessierte er sich tatsächlich nur für Männer.
Lydia straffte die Schultern, rückte ihre Haube zurecht und näherte sich ihm mit einem tapferen Lächeln.
Offenbar spürte er, dass sich jemand näherte. Er fuhr herum, eine Hand griff reflexartig zum Degen an seiner Seite. Die meisten vornehmen Herren trugen Degen als modisches Zubehör. Lydia hatte allerdings den Eindruck, dass Mr Reading, mit der Waffe umzugehen wusste. Und dann erkannte er sie.
„Miss Lydia“, grüßte er und zog den Hut. „Welch unerwartete Freude.“ Er klang nicht aufrichtig. „Wie haben Sie mich gefunden?“
Sie machte einen Knicks und wünschte, ihrer ersten Eingebung gefolgt zu sein. „Mr Reading“, murmelte sie bang. „Ich wollte eigentlich nur zum Markt. Wie konnte ich ahnen, Ihnen in dieser Gegend zu begegnen?“
„Nein, natürlich nicht. Wie dumm von mir. Verzeihen Sie.“ Es folgte ein peinliches Schweigen.
„Wonach suchen Sie?“, fragte sie schließlich. „Vielleicht kann ich Ihnen helfen?“
„Ich fürchte nicht“, antwortete er und setzte den Hut zu ihrem Bedauern wieder auf.
Der scharfe Schatten verbarg seine Augen und sein schönes Gesicht. „Vor Kurzem wurde auf Lord Rohan geschossen, als er durch diese Gegend fuhr, und ich versuche herauszufinden, wo der Schütze stand.“
„Man hat auf ihn geschossen?“, fragte Lydia entsetzt. Was würde Elinor dazu sagen?
Was würden sie ohne seine Wohltaten tun? Gottlob hatte Nanny wenigstens das Geld versteckt. „Ist er tot?“
„Nein, natürlich nicht. Hat Ihre Schwester nichts davon erzählt? Es war ein harmloser Streifschuss. Vor knapp zwei Wochen, nachdem wir Ihr Haus verließen. Die Wunde ist fast verheilt. Er hält es für ein Versehen. Aber ich bin mir dessen nicht so sicher.“
„Hat er viele Feinde?“
„Nun ja, genügend.“
Lydia hatte das Gefühl, sie müsse gehen oder wenigstens etwas sagen, um diesem beklemmenden Sog zu entkommen, den er auf sie ausübte.
Er verabscheute sie, konnte sie nicht einmal ansehen. Sein Blick war starr auf einen Punkt über ihrer Schulter gerichtet. Nanny würde sagen, das sei ein Glück für sie.
Aber im Augenblick erfüllte sie diese Erkenntnis mit Wehmut. „Ich muss weiter zum Markt, Mr Reading“, sagte sie und wünschte sich Elinors Gelassenheit.
Etwas in ihrer Stimme schien ihn aufmerksam zu machen. „Sie sind doch nicht ohne Begleitung, Miss Lydia?“
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter. Jacobs war immer noch nicht zu sehen.
„Natürlich nicht. Unser guter Jacobs begleitet mich. Aber ich fürchte, ich war zu ausgelassen und beschwingt, um auf ihn zu achten, und er hat mich aus den Augen verloren. Aber auf dem Markt werden wir uns gewiss wiederfinden.“ Sie hielt ihm die Hand hin. „Guten Tag, Mr Reading.“
Er nahm ihre Hand und hielt sie länger, als schicklich gewesen wäre. „Ich begleite Sie zum Markt, wenn Sie gestatten.“
„Das ist nicht nötig ...“
„Ich würde meine Pflicht als Gentleman vernachlässigen, wenn ich Sie alleine gehen ließe“, erklärte er in seiner reservierten Art. „Eine junge Dame von Ihrer Schönheit sollte sich nicht ohne Begleitung auf die Straße wagen. Ich wäre untröstlich, wenn Ihnen etwas zustieße.“
Konventionelle Höflichkeit. Sie brachte Elinors abweisendes Lächeln nicht zustande, obgleich sie sich darum bemühte. „Es ist unnötig vorzugeben, Sie hätten ein Interesse an mir, Mr Reading. Mir ist sehr wohl bewusst, dass ich Ihrem Geschmack nicht entspreche, auch wenn Sie mir
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