040 - Paris, Stadt der Sünde
der sie so oft im Stich gelassen hatte, dass diese vage Hoffnung, die das Schicksal ihr bot, nicht in letzter Sekunde platzte wie eine Seifenblase.
Lydia band die Schnürsenkel ihrer derben Stiefel, legte den warmen Wollumhang um die Schultern und hängte sich den Einkaufskorb über den Arm. Es war ein etwas milderer Tag in diesem langen kalten Winter, und sie hatte das dringende Bedürfnis nach Bewegung an frischer Luft. Elinor wachte zwar streng über sie, doch gegen einen Bummel über den Wochenmarkt hatte sie nichts einzuwenden, wohlbemerkt unter Aufsicht des alten Jacobs. Zum ersten Mal seit Wochen schien die Sonne, und die Vorstellung, der Frühling könnte bald Einzug halten, war nicht mehr so abwegig wie noch vor einer Woche.
Sie wollte der Enge des winzigen Hauses entfliehen und dem Gespenst des nahen Todes ihrer Mutter. Auch Elinors beständige Besorgnis und nicht zuletzt die bedrückende Gegenwart von Etienne de Giverney gingen ihr auf die Nerven.
Natürlich war ihr klar, worauf er hinauswollte, und ebenso deutlich spürte sie Elinors Billigung seiner Absichten und Nannys übertriebene Fürsorglichkeit. Als Ehemann wäre der Arzt bestens geeignet, das wollte sie nicht leugnen. Er sah passabel aus, war freundlich und verfügte über ein gutes Einkommen, von dem auch die Familie notfalls leben könnte. Mit dem teuflischen Viscount Rohan im Hintergrund war er eine bessere Partie, als sie je erhoffen konnte.
Und sie würde ihm ihr Jawort geben, wenn er ihr einen Antrag machte. Sie würde ihn heiraten, das Bett mit ihm teilen und seine Kinder zur Welt bringen. Kein Mensch würde je auf den Gedanken kommen, dass sie von einem anderen träumte.
So sah ihre Zukunft aus. Lydia gehörte nicht zu den Menschen, die sich unnötig Sorgen machten. Kommt Zeit, kommt Rat, lautete ihre Devise. Die Sonne strahlte vom blauen Himmel, und sie hatte genügend Geld in der Tasche, um frisches Brot, Käse und Butter zu kaufen.
Elinor würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn sie wüsste, dass Rohan seinen milden Gaben auch Bargeld beifügte. Nanny war so klug, die Scheine abzufangen, bevor Elinor Wind davon bekam, und hatte einen Sparstrumpf angelegt, aus dem Lydia sich gelegentlich kleine Vergnügungen gönnte.
Der riesige Wochenmarkt Les Halles lag nur einen flotten Fußmarsch von zehn Minuten entfernt. Lydia hatte beinahe Mitleid mit dem armen Jacobs, der Mühe hatte, sie einzuholen, und verlangsamte ihre Schritte, zügelte ihre Energie, die in ihr perlte wie Champagner. Bald würde sie wieder eingesperrt sein in dem düsteren Haus, in dem es nach Krankheit und Tod roch. Aber jetzt war sie voller Lebenslust, wollte tanzen, jauchzen, durch die Straßen hüpfen ...
Urplötzlich hielt sie inne, der leere Korb wippte an ihrem Arm. Sie warf einen Blick über die Schulter, keine Spur von Jacobs – sie hatte es gegen ihren Willen geschafft, ihn abzuschütteln. Und direkt vor ihr, den Blick nach oben auf die Häuserfassaden der belebten Straße gerichtet, entdeckte sie Mr Charles Reading.
Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass er es war, obgleich sie ihm nur ein einziges Mal begegnet war, damals, als sie in so großer Sorgen um ihre Mutter und Elinor gewesen war, dass sie ihn kaum beachtet hatte.
Aber das stimmte in Wahrheit nicht. Sie hatte in sein schönes, vernarbtes Gesicht aufgeblickt und etwas höchst Befremdliches verspürt, ein seltsames Sehnen, den Drang, ihm näher zu sein, sein Gesicht zu berühren ...
Während er kaum Notiz von ihr genommen zu haben schien. Zugegeben, er hatte gefällige Höflichkeiten mit ihr getauscht, aber mehr nicht. Sie wusste genau, was hinter den Blicken von Männern lag, die sie ansahen. Sie hatte Etiennes lüsterne Begehrlichkeit auf den ersten Blick erkannt, ebenso Rohans Desinteresse: Sie konnte genau unterscheiden, ob Männer sie unverschämt oder respektvoll ansahen.
Aber Charles Reading war ihr ein Rätsel. Er hatte charmant gelächelt und mit ihr geplaudert, aber als sie in seine dunklen Augen geblickt hatte, war ihr, als begegne sie einer schwarzen Wand.
Welche Ironie, dachte sie. Alle Männer verliebten sich auf den ersten Blick in sie, was sie als Selbstverständlichkeit hinnahm. Aber der erste Mann, an dem sie diese Vernarrtheit vermisste, war auch der erste, der diese seltsamen Regungen in ihr auslöste.
Nanny Maude würde ihr erklären, woran das lag, wenn sie selbst bereit wäre, mit ihr darüber zu reden. Der einzige Grund, warum sie immer wieder an ihn
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