040 - Paris, Stadt der Sünde
Todesängste verliehen dem alten Mann die Kraft, die gebrechliche Greisin im Arm zu halten und Lydia hinter sich herzuziehen. Die morsche Haustür stieß er kurzerhand mit dem Fuß auf und stürmte mit den beiden Frauen in die kalte Winternacht hinaus.
„‚Es säuft der Adel, was er kann, bezahlen muss der Bauersmann ...‘“, krächzte Lady Caroline, deren perlender Sopran einst die Männerwelt verzaubert hatte. Elinor kniff die Augen zusammen und rannte ins Zimmer. Ihre Mutter lag auf dem Fußboden und grölte unbeirrt weiter. Die Flammen leckten bereits am Bettzeug und züngelten die Bettpfosten hinauf.
„Mama!“, schrie Elinor und versuchte sich ihr zu nähern. Eine Feuerwalze trennte sie von ihr, durch die sie nicht zu springen wagte, aus Angst, der Rückweg wäre ihr versperrt. Wenn Mama ihr die Arme entgegenstreckte, könnte sie ihren abgezehrten Körper aus dem Zimmer schleifen und in Sicherheit bringen.
Lady Caroline hob den Kopf und richtete ihren glasigen Blick auf Elinor. „Wo ist meine Tochter?“, schrie sie. „Wo ist meine Lydia?“
„Sie ist in Sicherheit, Mama. Ich bringe dich zu ihr. Steh auf, und komme ein paar Schritte näher, ich hebe dich über die Flammen.“
Lady Carolines gellendes Lachen übertönte das Brausen der Feuersbrunst. „Du siehst aus wie er ... wie dein Vater. Er wollte mich umbringen, genau wie du. Lydia soll kommen. Ohne sie gehe ich nirgendwohin.“
Die Feuerwalze zwischen ihnen wurde breiter, fraß sich in den Dielenboden, und Elinors Panik vertiefte sich. „Du willst doch nicht, dass Lydia etwas zustößt, Mama.
Wenn sie zurückkommt, könnte sie verbrennen. Bitte steh auf, und komm zu mir, ich bringe dich in Sicherheit. Vertrau mir, Mama. Ich habe dich doch immer geliebt.“
„Liebe?“ Sie lachte hohl, und eine grausame Ironie des Schicksals ließ sie offenbar wieder zu Verstand kommen. „Was weißt du schon von Liebe? Dich hat noch niemand geliebt, dich wird nie ein Mensch lieben. Ich gehe nicht in die Kälte hinaus.
Hier ist es warm, und draußen ist es kalt.“
„Mama!“, flehte Elinor, außer sich vor Verzweiflung. Der Qualm war so dicht geworden, dass sie ihre Mutter kaum noch sehen konnte. Unter ihren nackten Füßen spürte sie die Hitze der glühenden Bodenbretter. Wenn sie noch länger wartete, würde sie nicht lebend aus dem brennenden Haus kommen. Aber sie konnte ihre Mutter nicht ihrem Schicksal überlassen, wollte nicht ...
Aus der qualmenden Dunkelheit streckte sich ihr ein starker Arm entgegen, schlang sich um ihre Mitte und hob sie hoch. Elinor entfuhr ein spitzer Schrei, sie wehrte sich erbittert, aber der Fremde trug sie unbeirrt durch den beißenden Rauch. Hinter ihm krachten die Deckenbalken mit lautem Getöse herunter, in das sich das gespenstische Gelächter ihrer Mutter mischte, und dann stürmte er ins Freie.
Elinor wurde unsanft in den Schnee geworfen, raffte sich auf, versuchte, auf allen vieren zurück ins Haus zu kriechen, wurde grob an den Schultern gepackt und zurückgerissen. Wutentbrannt drehte sie sich um, schlug nach ihrem Retter, und der Anblick von Francis Rohan vermochte ihren Zorn nicht zu beschwichtigen. „Ich muss sie retten!“, kreischte sie. Das schrille Lachen ihrer Mutter hallte immer noch durch die Nacht.
„Sie ist es nicht wert, für sie zu sterben, Kind“, erklärte er kühl und sachlich, und sie hasste ihn dafür. „Ich fürchte, es ist ohnehin zu spät.“
In diesem Augenblick stürzte das brennende Haus in sich zusammen. Das Gezeter ihrer Mutter verstummte. Nur Lydias Schluchzen drang an ihr Ohr.
Sie riss sich von Rohan los und suchte ihre Schwester. Lydia kniete im Schnee neben Nanny Maude, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und weinte bitterlich. Elinor kauerte sich neben sie, nahm sie in die Arme und wiegte sie tröstend. Zu ihrer Verwunderung liefen auch ihr die Tränen übers Gesicht. Sie hatte ihre Mutter vor langer Zeit verloren, und der Fürst der Finsternis hatte recht, sie war es nicht wert, für sie zu sterben. Noch mit ihrem letzten Atemzug hatte ihre Mutter sie verstoßen, und dennoch weinte Elinor um sich.
Er war näher getreten, aber sie beachtete ihn nicht, schlang nur die Arme fester um Lydia.
Jacobs tauchte aus der Dunkelheit auf, seine Tränen hatten helle Rinnsale auf seinem rußgeschwärzten Gesicht hinterlassen. „Wir müssen Nanny von hier fortbringen“, stieß er tränenerstickt hervor. „Sie braucht einen Arzt.“
„Bring sie in meine Kutsche. Mein
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