040 - Paris, Stadt der Sünde
schon? Aber irgendetwas stimmt nicht mit diesem Marcus Harriman, das spüre ich ganz deutlich.“
„Ich kann nur hoffen, dass du dich irrst“, erklärte Elinor in diesem spitzen Tonfall, den Lydia verabscheute. „Wenn er uns nicht hilft, sind wir völlig der Gnade und Barmherzigkeit dieses Lord Rohan ausgeliefert. Und ein sittenloser Lebemann wird wohl kaum ...“
„Ich wünschte, du würdest nicht ständig schlecht über ihn reden“, fiel Lydia ihr ins Wort, wobei sie lustlos in ihrem überbackenen Lauchauflauf herumstocherte, den Nanny zubereitet hatte.
Aller Augen richteten sich auf sie. „Mein Liebe“, begann Elinor von Neuem, und Lydia hörte die Angst in ihrer Stimme, die sich in letzter Zeit verstärkt hatte. „Dieser Mann ist kein Umgang für dich.“
„Wie oft muss ich dir noch sagen, mir liegt nichts an Lord Rohan und umgekehrt.
Allerdings sind meine Sympathien für ihn nach diesem Nachmittag mit Etienne erheblich gestiegen.“
„Warum?“, fragte Elinor tonlos.
„Weißt du eigentlich, warum er in Paris lebt?“
„Das interessiert mich herzlich wenig, meine Liebe. Ich nehme an, er hat sich hier niedergelassen, weil Paris die Hauptstadt des Sittenverfalls ist, höflich ausgedrückt.
Und da Lord Rohan für seinen ausschweifenden Lebenswandel berüchtigt ist, ist das genau der richtige Ort für ihn.“
„Er war gezwungen, England zu verlassen. Wenn er zurückkehrt, erwartet ihn die Todesstrafe.“
Elinor zog eine Braue hoch. „Ach, tatsächlich? Hat er sich mit einem eifersüchtigen Ehemann duelliert?“
„Nein“, antwortete Lydia.
„Er ist ein abscheulicher Mann, Miss“, mischte Nanny Maude sich ein. „Er ist mit dem Teufel im Bunde, trinkt Menschenblut und ...“
„Er kämpfte in der Schlacht von Culloden“, sprudelte Lydia heraus. „Er war noch keine zwanzig, als er für Bonnie Prince Charlie in den Krieg zog, musste zusehen, wie seine Familie hingerichtet wurde, und konnte sein Leben nur mit knapper Not retten.“
Es entstand ein betretenes Schweigen. Im nächsten Moment räusperte Nanny sich.
„Na ja, in dem Kerl steckt offenbar ein guter Kern. Eine tüchtige Frau an seiner Seite wird ihm die Flausen austreiben, und dann hört er auf, dieses Lotterleben zu führen.“
Jacobs nickte zustimmend. Nach einer Weile ergriff Elinor wieder das Wort, und ihre Stimme klang belegt.
„Soll das etwa eine Entschuldigung für seine Schandtaten sein? Gibt ihm das ein Recht, das Leben anderer Menschen zu zerstören?“
„Welches Leben hat er denn zerstört?“, fragte Lydia eindringlich, und ihr war, als höre sie die Antwort ihrer Schwester, als habe sie laut gesprochen.
Mein Leben.
Elinor wurde durch Lydias Hüsteln geweckt und blieb zunächst still liegen. Etwas war nicht in Ordnung, das spürte sie. Sie richtete sich auf und spähte in die Dunkelheit.
Ihre Augen brannten, ihre Kehle schmerzte, und dann hörte sie das unheilvolle Knistern. Entsetzen packte sie. Ein Brand in diesem uralten morschen Holzhaus hätte katastrophale Folgen. Die Flammen würden sich in Windeseile ausbreiten, auf Nachbarhäuser übergreifen und sich unaufhaltsam durch die engen Gassen wälzen.
Sie rüttelte Lydia wach und sprang aus dem Bett. Das Atmen fiel ihr schwer. „Das Haus brennt“, schrie sie. „Wir müssen hier raus.“
Lydia war im Nu wach, schlüpfte in die Ärmel ihres Morgenrocks, als Elinor bereits an der Tür war. Rauchschwaden waberten durch die Ritzen. Sie riss die Tür heftig auf und wich erschrocken vor dem eindringenden Qualm zurück.
„Nanny!“, schrie sie gellend, hielt sich den Arm schützend vors Gesicht und eilte in den Flur, wo Jacobs an ihr vorbeistürmte. Jetzt hörte sie auch das irre Lachen ihrer Mutter, bei dem sich ihr die Nackenhaare sträubten.
Jacobs stieß die Tür zum Krankenzimmer auf, aus dem die Flammen schlugen. Ohne Zögern stürzte er sich in die Feuersbrunst, tauchte kurz darauf mit einem Bündel in den Armen wieder auf und hastete zur Haustür. „Folgt mir!“, schrie er über das Fauchen und Knistern der Flammen hinweg.
„Mama!“, schrie Lydia. Und dann war Lady Carolines krächzende Stimme wieder zu hören, die ein zotiges Trinklied grölte.
„Er bringt Nanny Maude in Sicherheit. Lauf mit ihm ins Freie!“, befahl Elinor barsch.
„Ich kümmere mich um Mama.“
„Nein, ich lass dich nicht allein!“
Elinor versetzte ihrer störrischen Schwester einen unsanften Stoß in Jacobs Richtung, der sie geistesgegenwärtig am Arm packte.
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