040 - Paris, Stadt der Sünde
verurteilt und auf Tower Hill hingerichtet. Diesen Tag wünsche ich mir sehnlichst herbei.“
Lydia vermochte ihr Entsetzen nicht zu verbergen. „Sie wünschen, dass Lord Rohan enthauptet wird?“
„Vergessen Sie nicht, meine Teuerste, ich bin Arzt und begegne dem Tod tagtäglich.
Rohan gelang die Flucht nach Frankreich, wo er sich den Titel aneignete, der mir zugestanden hätte. Seither ist er mit dem Teufel im Bunde.“ Etienne schniefte, eine unangenehme Angewohnheit, die sich im Alter verstärken würde, befürchtete Lydia.
„Wie alt war er damals, als diese schrecklichen Dinge sich ereigneten? Er ist doch noch gar nicht so alt, oder?“, fragte sie.
„Als er ins Exil verbannt wurde? Nachdem er in England für die Jakobiter kämpfte?
Siebzehn, glaube ich.“
„Oh, mein Gott“, flüsterte Lydia erschrocken. Nanny Maude und Jacobs hatten Verwandte in Schottland und waren treue Jakobiter. Nanny hatte ihr alles über den wahren König erzählt und das gnadenlose Blutbad, das der Duke of Cumberland in der Schlacht bei Culloden unter den Jakobiten angerichtet hatte. Sie nannte den Duke nur den „Schlächter“. Der siebzehnjährige Rohan hatte in diesem blutigen Massaker gekämpft und es geschafft, den Kriegswirren zu entkommen. Welch grausames Schicksal. Solche Erlebnisse konnten einen Menschen für immer verändern.
„Ich wünschte, er würde einen Grund finden, nach England zurückzukehren“, sagte Etienne. „Dann würde ich es mir zur Aufgabe machen, die englischen Behörden auf seine Fährte zu setzen. Nach seiner Hinrichtung würde der französische Titel auf mich übergehen. Und die Frau, die ich heirate, wäre früher oder später eine Comtesse de Giverney.“
Lydia übersah geflissentlich seinen bedeutungsvollen Blick. „Ich glaube nicht, dass Lord Rohan daran interessiert ist, nach England zurückzukehren.“
„Leider nicht“, sagte er bitter. „Wir werden abwarten müssen, ma chère .“
Wir. Eine entmutigende und unausweichliche Perspektive.
Nachdem Etienne sie nach Hause gebracht hatte, stellten sich rasende Kopfschmerzen ein. Elinor überfiel sie mit Neuigkeiten über diesen neuen Cousin, aber Lydia war nicht in der Verfassung, ihr zuzuhören. Sie schleppte sich in ihre Kammer, zog die Vorhänge zu und legte sich erschöpft in das weiche Bett, das Lord Rohan ihnen geschenkt hatte. In ihrem schmerzenden Kopf wirbelten wirre Gedanken: Etiennes monotone selbstverliebte Stimme, Charles Readings gequälter Blick. Ein verlassener halbwüchsiger Junge mitten in den Schrecken einer blutigen Rebellion. Im Nebenzimmer redete Mama wieder wirres Zeug, stieß lauthals derbe Flüche aus, die Lydia die Schamröte ins Gesicht trieben. Sie zog die Decke über die Ohren, um nichts mehr hören zu müssen, und versuchte zu schlafen.
Der Schlaf brachte ihr keine Erleichterung. Im Traum beugte Charles Reading sich über sie und wollte sie küssen. Doch plötzlich griff Etienne ihn an und schlug ihm mit einem Säbel ins Gesicht. Er stürzte zu Boden, sein Blut versickerte in der Erde. Und als sie sich über ihn beugte, blickte sie in das jugendliche Gesicht von Francis Rohan, ohne den sarkastischen Zug um den Mund. Als sie erwachte, musste sie weinen.
Sie schüttelte die Bilder des Grauens ab, zwang sich, aufzustehen, um in der Küche zu helfen, nur um festzustellen, dass der Tisch bereits gedeckt war. „Da sind Sie ja“, empfing Nanny sie. „Wir wollten Sie nicht wecken, Sie wirkten so erschöpft, armes Kind.“
„Ich fühle mich schon wieder wohler“, sagte sie und an Elinor gerichtet, die bereits am Tisch saß: „Wir hatten Besuch, wie ich höre?“
Die vier nahmen ihre Mahlzeiten gemeinsam ein, ein unverzeihlicher Bruch gesellschaftlicher Gepflogenheiten, auf dem Elinor bestand. Wir sind eine Familie, pflegte sie zu sagen, und niemand sollte in der Küche essen. „Ja, unser Cousin Tolliver“, erklärte sie. „Er macht einen angenehmen Eindruck, aber Mama war von seinem Anblick so verstört, dass sie ihn angriff und in die Flucht schlug.“
Nanny räusperte sich vernehmlich.
„Achte nicht auf sie“, fuhr Elinor nachsichtig fort. „Nanny Maude hat eine fixe Idee und schwört, es existiere kein entfernter Cousin, und behauptet, er sei ein Schwindler. Aber ein Blick genügt, um zu wissen, dass er kein Lügner ist.“
„Die Harriman-Nase?“, fragte Lydia.
„Genau.“
„Nur zu, hört nicht auf mich“, brummte Nanny beleidigt. „Ich bin ja nur ein altes Weib, was weiß ich denn
Weitere Kostenlose Bücher